Die letzte Sünde: Kommissar Rosenthal ermittelt in Tel Aviv (German Edition)
Essensreste untersuchten. Das Haus war so klein, dass eigentlich nur eine Familie darin wohnen konnte. Dass an der Holztür angebrachte Schild wies auch lediglich den Namen der Familie Chajbi aus. Es gab keine Klingel, daher klopfte Assaf einigeMale energisch an die Tür. Kurze Zeit später fragte eine Frauenstimme aus dem Inneren, wer da draußen sei.
»Mein Name ist Assaf Rosenthal. Ich bin von der Polizei.«
Die Tür öffnete sich so weit, wie es die Türkette erlaubte. Ein Paar blaue Augen starrte Assaf an.
»Geveret Klara Chajbi? Mein Name ist Assaf Rosenthal. Ich bin von der Polizei«, wiederholte Assaf und hielt seinen Polizeiausweis an den Spalt ins Licht. »Kann ich mit dir sprechen?«
Klara Chajbi schien entschieden zu haben, dass der Kommissar keine Gefahr darstellte, und öffnete erst die Sicherheitskette und dann die Tür. »Guten Abend, Kommissar. Ist etwas passiert?«, fragte sie sofort aufgeregt, während Assaf den schmalen Flur des Hauses betrat.
Statt zu antworten, folgte Assaf der älteren Dame, die er auf etwa Mitte siebzig schätzte, ins Wohnzimmer.
»Entschuldige, dass ich so spät noch störe«, sagte er mit Blick auf den hellblauen Frottee-Bademantel, den Klara Chajbi trug und der verriet, dass sie sich bereits bettfertig gemacht hatte. Er setzte sich auf die Samtcouch, die im Wohnzimmer zwischen Antiquitäten stand, bei denen den Händlern in Jaffa wohl die Augen übergehen würden.
Die Frau nahm ebenfalls Platz und schaute ihn aus wachen, blauen Augen an. »Was ist passiert?«
»Geveret Chajbi ...«
»Nenn mich Klara bitte.«
»Klara, ich habe eine traurige Nachricht. Wir haben heute Morgen deine Enkelin Marina tot aufgefunden.«
Die blauen Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Marina? Nein. Lo, lo, lo.« Sie schaute ihn ungläubig an. »Das kann nicht sein. Marina? Was ist passiert?«
Assaf atmete tief ein. Einer alten Frau zu sagen, dass ihre Enkelin tot ist, war schon schlimm genug, aber ihr noch sagen zu müssen, dass sie ermordet worden war, übertraf alles.
»Klara, es tut mit leid. Wir haben deine Enkelin heute Morgen gefunden. Auf dem Gelände neben ihrem Ulpan. Sie ... sie wurde getötet.«
Klara Chajbi öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. »Getötet?«, wiederholte sie. »O Gott! Wer hat das getan? Jemand aus ihrer Klasse?«
»Das wissen wir noch nicht, aber ich verspreche dir, ich werde alles tun, um denjenigen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen.« Der Kommissar atmete tief ein. »Und Klara, ich muss dich bitten, morgen zu uns auf das Revier zu kommen. Die Sekretärin der Sprachschule hat Marina bereits identifiziert, aber ...«
Die ältere Dame nickte mechanisch. »Ich werde gleich am Morgen kommen. Ich will sie noch einmal sehen.«
Assaf bedankte sich leise. Danach war es still. Klara schien nun ganz in sich selbst versunken zu sein. Wie ein Häufchen Elend saß die zierliche Dame mit den großen blauen Augen in dem Ohrensessel. Trotz ihres Alters hatte sie ein sehr glattes Gesicht, nur ihre Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte, verrieten ihr Alter. »Ich wusste, dass es kein gutes Ende mit dem Kind nehmen würde«, flüsterte sie mehr zu sich selbst.
»Was meinst du damit?«
Statt zu antworten, erhob sich Klara langsam, wischte die Tränen von den Wangen ab und wankte benommen in die Küche. Assaf folgte ihr und versuchte, sie zu stützen. An der Türschwelle duckte er sich instinktiv, obwohl die Deckenzwar niedrig waren, aber doch noch höher als die ein Meter achtundsiebzig, die er maß.
»Hast du Hunger?«, fragte Klara, und ohne eine Antwort des Kommissars abzuwarten, der natürlich hungrig war, fing sie an, in der Küche herumzuhantieren. Obwohl Assaf protestierte, holte sie ein paar Stücken Jachnun aus dem Tiefkühler, ließ sie in der Mikrowelle auftauen und warf den Teig danach in die Pfanne. Dann schnitt sie mit geübten Handgriffen einige Tomaten klein. »Ich habe das Jachnun selbst gemacht. Magst du Gazoz?«, fragte sie den Kommissar, dem die Brauselimonade natürlich schmeckte.
Assaf stand derweil stumm in der Küche herum und sah der alten Frau zu, wie sie zu kochen begann, statt sich mit den Informationen auseinanderzusetzen, die sie soeben erhalten hatte. Der Kommissar fand es selbst für israelische Großmütter, die für ihre Fürsorglichkeit bekannt waren, ungewöhnlich, in so einem Moment Essen zuzubereiten. Aber er ließ ihr geduldig die Zeit, die sie anscheinend brauchte, bevor sie die Nachricht an sich heranlassen
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