Die letzte Zeugin
etwas abzubekommen. »Es könnte sein, dass es heute Nacht friert. Und morgen wird es tagsüber wieder über zwanzig Grad. Hast du schon einmal einen Tornado erlebt?«
»Ich bin darauf vorbereitet.« Sie nahm einen grünbraunen Keramikkrug aus einem Schrank.
»Ist der aus einem unserer Läden?«
»Ja. Die Künstler hier am Ort sind sehr gut.«
Sie holte einen Behälter mit Blumendünger aus dem Schrank unter der Spüle und gab einen kleinen Löffel voll in den Krug, bevor sie ihn mit Wasser füllte. Schweigend saß er da, während sie die Tulpen arrangierte.
Sie stellte den Krug auf die Küchentheke, dann musterte sie ihn wie einen Verdächtigen. »Du kannst ein Glas Wein haben.«
»Ja, gerne.«
Sie holte die Flasche und Gläser und schenkte den Wein ein. »Du scheinst mir von deinem heutigen Problem erzählen zu wollen. Aber ich weiß nicht, warum. Schließlich gehöre ich nicht zu deinem Freundeskreis.«
»Vielleicht deshalb. Und außerdem ist mir klar geworden, dass du indirekt doch damit zu tun hast.«
»Wieso das?«
»Ich erzähle es dir.« Er trank einen Schluck Wein. Als sie sich weder setzte noch von ihrem Wein trank, zuckte er mit den Schultern. »Okay. Ich hatte heute einen unangenehmen Zwischenfall mit einer Frau. Damals auf der Highschool war sie meine große Liebe. Weißt du, was ich meine?«
Vor Abigails innerem Auge entstand ein glasklares Bild von Ilya Volkov. Er kam dem Begriff vermutlich am nächsten, aber besonders nahe war das auch nicht. »Nicht wirklich.«
»Hattest du nie Liebeskummer?«
»Ich habe mehrere Klassen übersprungen, deshalb war ich in der Schule immer viel jünger als die anderen.«
»Na ja. Also, mein Erlebnis.« Er hob das Glas, prostete ihr zu und trank noch einen Schluck. »Sie war meine Erste. An die Erste erinnert man sich am längsten, stimmt’s?«
»Du meinst den ersten sexuellen Verkehr. Ich habe keine emotionale Bindung an meinen ersten Sexualpartner.«
»Du bist eine harte Nuss als Zuhörerin, Abigail. Als sie mit mir Schluss gemacht hat – wegen eines Collegestudenten, der Football-Captain war –, hat es sehr wehgetan. Sehr, sehr weh.«
»Ich kann nicht verstehen, warum man einem früheren Partner wehtun muss, wenn man sich einem anderen zuwendet. Es tut mir leid, dass sie so gehandelt hat.«
»Ich bin darüber hinweggekommen. Zumindest habe ich es mir eingebildet. Ich bin nach Little Rock gezogen und habe dort zehn Jahre lang gelebt. Als ich zurückkam, trennte sie sich gerade von Ehemann Nummer zwei.«
»Ich verstehe.«
Ihm wurde klar, dass er Sylbie lediglich aus seiner Perspektive schilderte. »Sie ist nicht so hartherzig, wie ich sie darstelle, aber ich bin immer noch ein bisschen sauer, und das macht mich natürlich voreingenommen. Ich kam also zurück und übernahm die Stelle hier. Die ersten Monate war ich zu beschäftigt, weil ich mich zuerst hier zurechtfinden musste. Außerdem ging es meinem Vater nicht gut.«
»Das tut mir leid. Ich hoffe, es geht ihm wieder besser.«
»Ja, danke. Mittlerweile geht es ihm wieder gut. Vor einiger Zeit ließen Sylbie und ich dann sozusagen die Vergangenheit noch einmal aufleben.«
»Du hattest Sex mit ihr.«
»Ja, ein- oder zweimal habe ich mit ihr geschlafen. Das erste Mal vor zwei Wochen und dann noch einmal. Aber es war einfach nicht das Richtige.« Stirnrunzelnd musterte er sein Glas. »Vielleicht kann man nicht einfach so die Zeit zurückdrehen.«
»Warum sollte man auch, wenn man früher einen Fehler gemacht hat?«
»Guter Punkt. Sex also. Ich beschloss, einer Wiederholung zu widerstehen und ihr das auch zu sagen – was ich gleich hätte machen sollen, anstatt es vor mir herzuschieben. Heute Nachmittag hat sie … na ja, sie hat den Typen, dem der Laden gehört, in dem sie ihre Objekte ausstellt und wo sie auch halbtags arbeitet, dazu gebracht, mich anzufordern. Offiziell.«
Sein Gesprächsstil war wie der seiner Mutter, dachte Abigail. Persönlich und weitschweifig. Faszinierend. »Er hat ein Verbrechen gemeldet?«
»Nein, angeblich gab es einen Streit, bei dem ich eingreifen musste. Aber sie war ganz allein da und wollte sich mit mir im Hinterzimmer vergnügen.«
»Mit dir dort schlafen?«
»Ja. Das hatte sie vor, und als ich nicht darauf einging, zog sie ihr Kleid aus. Es glitt einfach so zu Boden …«, er schnipste mit den Fingern, »… und sie stand da, mit nichts als roten Schuhen bekleidet.«
»Sie muss sehr selbstbewusst sein, und wahrscheinlich war sie sich sicher, dass du
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