Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
nie gedacht, dass ich so etwas noch einmal sehen würde.«
»Wie ist es da draußen?« Was das betraf, musste sie einräumen, dass er ihr an Erfahrungen überlegen war. Er trug unverkennbar das Siegel eines Mannes, der auf der Flucht vor irgendetwas schwere Zeiten durchge macht hatte.
Nachdem Rosa das Tal entdeckt hatte, hatte sie sich nicht mehr sehr weit davon fortgewagt. Sie schickten Patrouillen aus und plünderten den Straßenabschnitt, der durch ihr Territorium führte. Von Fahrern, die sie überfallen hatten, hatte Rosa gehört, dass es nördlich und östlich von ihnen noch Siedlungen gab. Wenn auch im Süden Menschen überlebt hatten, war noch keiner von ihnen weit genug gekommen, um davon zu erzählen.
»Es ist leer«, sagte er, »und still. Ich glaube, ich habe erst gerade eben begriffen, wie still.«
Sie nickte, denn die Last der Stille war ihr vertraut. Bevor Rio zu ihr gestoßen war, hatte sie ihre Tage damit verbracht, den Vögeln, den Insekten und den Klapperschlangen zu lauschen. Manchmal hatte sie gesungen oder mit sich selbst gesprochen, aber das hatte nicht sehr geholfen. Doch sobald sie jemanden gehabt hatte, um den sie sich hatte kümmern müssen, war alles wichtiger geworden. Niemanden zu haben war das schlimmste Gefühl überhaupt.
Der Doc erzählte noch mehr über seine Reisen, und Rosa hörte wie gebannt zu. »Ich bin auf dem Weg hierher sogar durch Vegas gekommen«, sagte er. »Weißt du, manche Orte brennen sich einem einfach ins Gedächtnis ein. Zeitlos. Das war Vegas für mich. Es war schlimm, die Ruinen zu sehen.«
Das Haus ihrer abuela in Juárez war so ein Ort. Diese c asita , die immer nach frischen Maistortillas und den Bohnen, die im Topf auf dem Feuer kochten, roch, war vor ihrem inneren Auge mitsamt den kühlen Lehmziegelwänden und dem Schrein für die heilige Jungfrau Maria unverändert.
»Es ist nie gut, wenn man versucht zurückzukehren«, sagte sie leise.
Er verzog den Mund. »Ja. Das wollte ich auch nicht.« Sein Blick ging auf einmal in weite Ferne, über die Tänzer hinweg in die Dunkelheit dahinter. »Tabitha und ich haben dort geheiratet, eines Abends im Paris Las Vegas. Wusstest du, dass die Nachbildung des Eiffelturms im Verhältnis zwei zu eins zum Original errichtet worden ist? Das haben wir bei der Führung erfahren. Hundertvierundsechzig Meter hoch.«
Rosa musterte ihn verwirrt. »Das wusste ich nicht.«
»Stell dir vor, einfach … an einer Führung teilzunehmen. In einem Hotel zu übernachten. Es kommt einem jetzt lächerlich vor, sogar verschwenderisch. Aber damals waren die Neuen Vereinigten Staaten erfolgreich und die Grenzen sicher. Der Wandel war ein Problem, mit dem sich der Osten herumschlagen musste; wir glaubten, er würde uns hier draußen nie treffen.« Ein hysterisches Lachen brach aus seiner Brust hervor. »Ich habe Tab gesagt, dass wir uns wohl mit der Vegas-Version von Paris begnügen müssten, denn wer wüsste schon, ob das Original noch stünde? Damals habe ich das als Witz gemeint.«
»Ist sie im Zuge des Wandels ums Leben gekommen?« Es war eine persönliche Frage, aber er hatte das Thema ja von sich aus angeschnitten und ihr so eine Steilvorlage geboten.
»Ich weiß es nicht. Wir haben uns ein Jahr vorher scheiden lassen.«
Obwohl sie keine Ahnung hatte, wie andere die Zeit maßen, benutzte man hier die Abkürzungen VW und NW. Vor und nach dem Wandel. Also gehörte diese glückliche Hochzeitsreise in die Welt VW. Solche Erinnerungen waren oft schmerzlich, vor allem da Chris ja nicht wusste, was aus dieser Frau geworden war. Manchmal war ein Schlusspunkt besser, selbst wenn die Nachrichten schlecht waren.
»Suchst du nach ihr?« Vielleicht war er deshalb auf Wanderschaft. Wenn ja, war das süß. Sie hatte eine heimliche Schwäche für Männer auf einer hoffnungs losen Suche, wahrscheinlich weil sie zu viele König- Artus-Geschichten gelesen hatte.
»Nein. Ich glaube, ich reise nur, um vor mir selbst zu fliehen.«
»Wie war es in Vegas beim zweiten Mal?« Rosa spürte, dass er die Frage brauchte, weil die Erinnerungen ihm immer noch im Kopf herumspukten. Er schleifte sie hinter sich her wie zerzauste Federn an den Rändern seines Schattens.
»Das Luxor ist zusammengebrochen. Die Springbrunnen des Bellagio sind verdunstet. Und der Eiffelturm ist umgestürzt und halb im Sand begraben. Es haben sich ein paar Rudel dort eingenistet – Gestaltwandler, wie du sie nennst –, und auch einige Menschen, aber die meisten sind aufgrund
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