Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
hatten.
»Aua!«, entfuhr es ihm.
»Armes Kindchen.« Sie arbeitete stumm weiter, während er den brennenden Schmerz in sich aufnahm. Irgendein Desinfektionsmittel. »Ich glaube nicht, dass ich die Wunde nähen muss. Versuch einfach, sie nicht noch schlimmer zu machen.«
Rosas Finger waren geschickt und überraschend kühl. Chris schloss die Augen und genoss das einfache, wunderbare Vergnügen, berührt zu werden. Sie beeilte sich nicht, aber sie trödelte auch nicht herum. Jedes Mal, wenn Haut über Haut streifte, erglühte Chris von innen. Sein Körper, der nach Aufmerksamkeit hungerte, reagierte in ganz urtümlicher Weise auf die pragmatische Versor gung.
Sie verband ihn, und er wurde schwach. Bald würde es vorbei sein. Er würde sich wieder in sich selbst zurückziehen und alles in sich verschließen. Aber solange Rosas Hände auf ihm ruhten, wusste er nicht, warum er das hätte tun sollen.
Ganz zart strichen ihre Fingerspitzen rechts an seiner Wirbelsäule entlang – gar nicht in der Nähe des Schnitts. Sie fuhr über seine Seite und ließ die Hand flach auf seiner Schulter ruhen. Ihre Fingernägel drangen leicht ein, prüften, neckten.
Chris ballte die Fäuste. Blut brodelte bis in die feinsten Äderchen und schrie nach mehr. Der Atemzug, den er gerade hatte ausstoßen wollen, blieb ihm in der Lunge stecken.
Rosa schluckte so laut, dass er es hören konnte. Dann wich sie rasch zwei Schritte zurück und war wieder sie selbst. Chris spürte geradezu, wie eine eisige Mauer zwischen ihnen hochschoss.
»So, geschafft.«
»Scheiße«, murmelte er.
Der Spaß ist vorbei.
Er war wirklich ein beschissener Versager, wenn das hier mittlerweile seiner Definition von »Spaß« entsprach. Aber seit Ange hatte ihn niemand mehr aus freiem Willen berührt – es war ja nichts damit zu gewinnen. Auf diese Augenblicke würden keine Schuldgefühle folgen, keine Scham. Nur ein überwältigendes Verlangen nach mehr.
Entschlossen, die Berührung als das zu nehmen, was sie gewesen war, und nach vorn zu schauen, ließ er die Schulter ein paarmal kreisen. Der Verband spannte sich, aber der Schmerz in der Wunde war im Vergleich zu dem in seinem Penis eine Kleinigkeit. Ein rascher Blick auf Rosa zeigte ihm, dass sie mit gesenktem Kopf alles wieder in den Verbandskasten räumte.
»Das entspricht auch meiner Erfahrung«, sagte er in das lastende Schweigen hinein. Seine Kehle war so trocken wie die Wüste vor der Tür der Taverne. »Das mit den Frauen, meine ich. Bei den meisten Grüppchen von Menschen, denen ich begegnet bin, war das Verhältnis Männer zu Frauen etwa zwei zu eins. Ich weiß nicht warum. Vielleicht hat es etwas mit dem Wandel zu tun, oder damit, wie beschissen schwer es war, danach zu überleben.«
»Da hast du recht.«
Sie rammte einen zusammengeknüllten Verband zurück in den Kasten, aber alles quoll wieder hervor, und die Enden hingen noch heraus, als sie den Deckel zuschlug. Mit einem Schnauben fing sie noch einmal von vorn an. Ihr zitterten die Fingerspitzen.
»Rosa?«
»Hör auf damit.«
Doch es wäre ihm leichter gefallen, Russisch zu sprechen, als sich nun von ihr abzuwenden. Er schob sich um die Theke herum und ergriff ihre Hände. Sie schlug ihn beiseite, aber er versuchte es noch einmal.
»Also bin ich jetzt wieder an der Reihe, dir eine Frage zu stellen«, sagte er. »Und vielleicht gibst du mir diesmal eine bessere Antwort darauf als die, dass du zu halsstarrig bist, um zu sterben. Wie hast du den Wandel überlebt?«
»Indem ich gekämpft habe.«
»Gegen Höllenhunde?« Er erinnerte sich, dass das ihre Bezeichnung für die Kreaturen war – und noch dazu eine sehr treffende.
»Gegen Menschen.«
Er hielt still, sah sie an und bat sie stumm fortzufahren. Irgendetwas verriet ihm, dass das hier wichtig war – ein entscheidender Teil ihrer Persönlichkeit. Es war ihm ein Rätsel, warum sie ihn so faszinierte. Vielleicht, weil sie die erste Person war, die ihm auch wirklich wie eine Person vorkam, seit er den Nordwesten verlassen hatte. Sie hatte Tiefgang, Schwächen und Stärken. Charakter. Unterwegs hatte er dagegen selten mehr als eingezogene Köpfe gesehen. Es war abschreckend und geradezu selbstmörderisch zu denken, dass die Menschheit sonst nichts mehr zu bieten hatte.
»Erzählst du es mir?«
»Indem ich gekämpft habe«, wiederholte sie, und ihr Blick ging angesichts der düsteren Erinnerungen in weite Ferne. »Man kämpft und kämpft – mit Steinen, Stöcken oder bloßen
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