Die letzten Dinge - Roman
es war der Nacken, den Ivy so fest gepackt hatte. Sie zog ihre Lippen mit dem Finger nach, die Lippen, die Ivy so unsterblich geküsst hatte. Und sie fuhr sich schließlich über die Augenlider, die sie so schrecklich aufgerissen hatte, als sie sich eigentlich hätte hingeben wollen. Hingeben!
Lotta zog den Kittel aus, warf ihn über den Stuhl und blickte über die Dächer der Stadt im warmen Licht des Spätnachmittages. Überall wehte goldenes Laub durch die Stadt und setzte sich in die Dachrinnen, es war alles so mild und roch gut. Lotta öffnete das Fenster und lehnte sich hinein, legte die Arme über Kreuz auf dem Fensterbrett.
Alles war gut gewesen. Alles schön. Alles verzaubert in der nässeverzierten Oktoberstadt. Der Heimweg, Ivys wunderbarer Brustkorb, an dem alle gerne lagen. Gut, er duftete ein wenig zu stark, lachte ein wenig zu laut, riss immer die Arme zu sehr in die Höhe … aber er war ein Mann! Wie erbärmlich man sich vorkommen konnte, wenn so eine Luxusausgabe von einem Kerl neben einem daherlief. Er ging ja auch nicht einfach so, er lief ein wenig theatralisch durch die Weltgeschichte, passte auf, dass ihn niemand übersah. Wollte sie so einen Kerl? Mit dämlichen Markenklamotten von Kopf bis Fuß?
Es waren die Dödel gewesen, natürlich, die Zuckerdödel, die Marzipandödel, die Blumendödel … Aber die Angst war in ihr hochgekommen, die Angst, sich in etwas zu verstricken, aus dem sie nicht mehr herauskam, die Angst, diesem kolossalen Mann zu gehören, einverleibt zu sein, Lotta hatte Angst vor dem bösen Wolf.
Warum eigentlich? Was konnte ihr denn passieren außer dem, wonach sie sich die ganze Zeit sehnte? Was, außer einigen wundervollen Stunden in den Armen eines begehrenswerten Prachtexemplares? Vielleicht war sie dem Kerl einfach nicht gewachsen. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass er sie auffraß und dann wieder ausspuckte wie ungenießbares Zeugs.
Und außerdem …. Wenn Dödel für ihn so wichtig waren? Dann hatte Lotta ihm jedenfalls keinen zu bieten.
Lotta war uneins mit sich und ärgerte sich ständig mehr. Sie hatte sich eine großartige Gelegenheit durch die Lappen gehen lassen. Wer weiss, ob so was noch mal wiederkam! Wenn er jetzt genug von ihr hatte? Wenn sie für ihn fortan nur noch die Erinnerung an einen halbherzigen Versuch darstellte, der auch noch missglückt war?
Lotta hatte den Mistral vorbeirauschen lassen, einfach so.
Sie musste sich das alles noch mal überlegen. Noch mal schlafen, sich ein wenig hinlegen, mal alle ihre Gedanken vergessen, die sich in ihrem Kopf drehten wie ein Windmühlenrad.
Oichee, murmelte Schiwrin . Oichee.
Aber wos?, fragte Nadjeschda.
Oichee.
Nadjeschda nahm ihm vorsichtig die Brille ab.
Warum du trägst Brille? Du liest gar nicht.
Mit Brille … kann ich besser die Märchen sehen im wilden Wald!
Uii, sagte Nadjeschda. Kannst du gucken: Bin ich eine gute Fee und eine sehrr schoone Fee!
Das ich weiß ohne Brille.
Dann krümmte er sich zusammen und eine weitere Ladung seines sich auflösenden Körpers schoss aus ihm heraus.
Ui, Jewgeni Schiwrin, was machen? Nur so! Nur so!
Sie schüttelte den Kopf, fuhr den Nachttisch näher heran und tauchte Lappen ins Waschwasser. Sie reinigte ihn, wechselte die Vorlagen, legte dicken Zellstoff unter und versuchte, die offenen Wunden nicht zu berühren.
Hast du Schmerzen, Jewgeni?
Schiwrin schüttelte den Kopf. Der gnädige Tumor. Der ihn liebevoll tötete, ohne ihn leiden zu lassen.
Hast du Durst, Jewgeni?
Er schüttelte den Kopf.
Aber muss trinken. Muss!
Sie gab ihm einen halben Schnabelbecher voll zu trinken.
Und wieder reinigte sie ihn, wieder und wieder, wusch ihm das Gesicht kalt ab, kämmte ihm die Haare, benetzte seine zerspringenden Lippen mit rosa Glycerin. Sie machte das Fenster auf, lüftete, dann schloss sie es wieder. Sie erneuerte die Waschschüssel, warf alte Lappen weg, leerte den Müll, zog ein frisches Laken auf. Und wieder schmutzte sich Jewgeni ein und wieder fing Nadjeschda von vorne an.
Uijuiju. Was machst du mit mir. Soll ich bleibe ganze Tag?
Schiwrin nickte.
Da. Cnacibo.
Er konnte die Augen nicht mehr öffnen. Nichts mehr sagen. Nichts mehr tun. Es war gerade so, als sei auch alles Wasser aus ihm herausgeflossen und als endlich alles Wasser aus ihm versickert war, lief alles Blut aus ihm heraus und schließlich lösten sich seine Gedanken auf und sie wurden zu Wasser und schwemmten und trieben in Bächen und Flüssen aus ihm heraus. Das Einzige, das
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