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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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ein
Krebsgeschwür am Magen, ein Leberschaden, ein Hirntumor oder Würmer im Darm.
Doch wieder blieben alle Untersuchungen, darunter sogar ein großes Blutbild,
ohne Befund. Man könne das Tier, meinte der Arzt, eine Zeit lang über
Infusionen ernähren, aber das sei teuer und keine echte Lösung. Alternativ bot
er eine Einschläferung an, die sei schmerzlos und schnell. David lehnte beides
ab, und Johnson erhielt nur eine Beruhigungsspritze, damit man ihn ohne weitere
Schrammen zurück in die Box schieben konnte.
    – Ich war mit ihm beim Arzt,
bei einem richtigen Spezialisten. Mit allem Pipapo.
    – Und?
    – Er meinte, wenn Johnson
jeden Tag eine Infusion bekommt, hält er vielleicht länger durch, aber das
ändere nichts am eigentlichen Problem.
    – Welches was ist?
    – Keine Ahnung. Es hieß, ich
solle ihm jeden Tag frisches rohes Fleisch hinstellen, am besten Tatar in
warmem Wasser, dann würde er schon irgendwann fressen. Jedes Tier frißt, bevor
es verhungert.
    – Na dann.
    – Weißt du, ich möchte Johnson
zu nichts zwingen. Ich möchte auch nicht rumtricksen und unsrer Mutter auf
Teufel komm raus eine halbtote Katze überreichen, bei der jede Rippe
hervortritt. Was würde sie von mir denken?
    – Du machst dir echt viele
Gedanken, Brüderchen. So bist du doch sonst nicht.
    – Was soll das denn nun
heißen?
    – Sorry, war nur ein Flachs.
Ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Aber trotz allem – es ist eine Katze.
Just a cat. Remember that.
    – Danke für diese hilfreiche
Bemerkung.
    – Ich mach mir ein paar Sorgen
um Becky. Sie hat neuerdings zwei Verehrer.
    – Ach echt?
    – Beide sind zwei Jahre älter
und etwas, naja – nerdig. Eigenartig. Kannst du dir vorstellen, wie man sich
als Vater fühlt, wenn die Tochter beginnt, auf eigenen Füßen durch die Welt zu
gehn? Und Dinge vor dir zu verheimlichen sucht?
    – Wie sollte ich? Aber das muß
wohl mal so sein, nicht wahr?
    – Ja. Die Kinder werden so
verflucht schnell erwachsen. Gestern hab ich Becky erklären müssen, was Jungs
an ihr so anziehend finden. Das war vielleicht heikel, und ihr war es
grottenpeinlich.
    – Wenigstens nimmt sie Nahrung
zu sich.
    – Ah. Ja. Das tut sie.
Gottseidank.
    – Machs mal gut.
    David meldete sich bei
Borten krank und verbrachte jede Minute zu Hause. Ging nicht einmal vor die
Tür, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. Er sah dem Kater lange in die
Augen, was dieser nicht mochte, stets drehte er den Kopf weg, und wenn David ihm
den Kopf festhielt, schloß Johnson die Lider, dann wirkte er ein wenig
verärgert, enerviert. Und gab doch keinen Laut von sich. Nur wenn David ihn
streichelte, lange streichelte, legte sich Johnson leise schnurrend auf die
Seite, gab seinen Bauch frei, eine große Geste des Vertrauens. David kraulte
ihm den Bauch und bat das Tier, erst in Gedanken, dann mit gemurmelten Worten,
um seine Freundschaft. Johnsons müder, etwas herablassender Blick schien zu
antworten: Die hast du doch schon. Du willst in Wahrheit mein Leben. Das nun
mal mir gehört. David führte imaginäre Dialoge, interpretierte in die fast
unbewegliche Mimik der Katze mancherlei bis allerlei hinein, und wenn er sich
dabei in einem lichten Moment ertappte, knurrte er und seufzte, stöhnte auf und
verließ den Raum, um etwas Rotwein zu trinken. Wodurch er noch melancholischer
wurde und sentimentaler. Er redete auf das Tier bald wie ein Lehrer, bald wie
ein Vater oder Arzt ein, zuletzt wie ein Freund, der Verständnis heuchelt und
doch nur um einen Gefallen bettelt, einen Aufschub. Johnson hörte sich das
alles geduldig an, wobei er immer müder wurde, kraftloser. Kein lebendes Wesen
hatte je in Davids Empfinden so viel Gleichgültigkeit ausgestrahlt, wenngleich
da nichts mehr strahlte. Johnsons Zustand ging schnell in ein langsames
Verdämmern über, und nur ganz selten hob er noch einmal den Kopf, schien sich
nach etwas umzusehen, bis sein Blick nichts mehr festhielt. Dann schlief er
ein, wie so viele Male zuvor, hörte zu atmen auf, träumte nicht mehr, und sein
Körper erkaltete, wurde steif. Die ehemals geschmeidige Eleganz verwandelte
sich binnen weniger Stunden in starre Klobigkeit, in eine plumpe Puppe des
Todes. David bekam einen Weinkrampf, für den er sich schämte. Ihm war, als habe
er eine Lektion in Stil und Vergänglichkeit erhalten, müsse nun eine Lehre
daraus ziehen. Seine eigene Existenz kam ihm mit einem Mal niveaulos vor,
vertändelt unter Wert. Nie hatte er etwas Sterbendes im Arm gehalten,

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