Die letzten Tage von Pompeji
zuerst ihr Herz; dieses aber ist das Werkzeug, dessen sie sich bedienen; sie dringen mit Gewalt in die Herzen der Menschen ein, während sie nur zu ihrem Verstande zu reden scheinen. Nichts ist so ansteckend, als der Enthusiasmus; er ist die wahre Allegorie in der Fabel des Orpheus; er bewegt die Steine, bezaubert die wilden Thiere. Der Enthusiasmus ist der Genius der Aufrichtigkeit und ohne ihn erringt die Wahrheit keine Siege.
Olinth ließ den Apäcides nicht so leicht entschlüpfen; er holte ihn wieder ein und redete ihn also an: »Es befremdet mich nicht, Apäcides, daß ich Dir unangenehm bin; daß ich alle Elemente Deines Gemüthes erschüttere; daß Du Dich in Zweifel verlierst, und auf dem ungeheuern Ozeane ungewisser und umnachteter Gedanken umhergeworfen wirst. Darüber wundere ich mich nicht; aber harre ein wenig mit mir aus; wache und bete. Die Finsternis wird verschwinden, der Sturm sich legen und Gott selbst, wie er einst auf dem See von Samaria umherwandelte, wird über die beruhigten Wellen hinschreiten, um Deine Seele zu befreien. Unsere Religion ist eifersüchtig in ihren Forderungen, aber wie unendlich freigebig in ihren Gaben. Sie beunruhigt Dich eine Stunde und lohnt Dir durch Unsterblichkeit.«
»Derartige Versprechungen,« sagte Apäcides bitter, »sind Kunstgriffe, durch die die Menschen zu allen Zeiten getäuscht wurden. Oh! wie herrlich waren die Versprechungen, die mich an den Altar der Isis führten.«
»Aber,« antwortete der Nazarener, »frage Deine Vernunft, kann eine Religion richtig sein, die gegen alle Moral anstößt. Man sagt euch, ihr sollt eure Götter verehren; aber was sind diese Götter nach eurem eigenen Geständnisse? was ihre Handlungen, was die Attribute ihrer Göttlichkeit? werden sie euch nicht insgesammt als die abscheulichsten Verbrechen dargestellt? Und doch fordert man von euch, ihr sollt sie wie die heiligsten Gottheiten anbeten. Jupiter selbst ist ein Vatermörder und Ehebrecher. Was sind die geringeren Götter als Nachahmer seiner Laster? Man sagt euch, ihr sollt nicht morden, aber ihr betet Mörder an; man sagt euch, ihr sollt nicht ehebrechen, aber ihr betet zu einem Ehebrecher; heißt dies nicht mit dem Heiligsten in der Menschennatur, mit dem Glauben, Spott zu treiben? Wende Dich jetzt zu Gott, dem einzigen, dem wahren Gott, vor dessen Altar ich Dich führen möchte. Wenn er Dir für die menschliche Vorstellung, für die rührende Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf, woran sich das schwache Herz anklammert, zu erhaben und zu geistig dünkt, so betrachte ihn in seinem Sohne, der sich mit Sterblichkeit bekleidete wie wir. Seine Sterblichkeit gibt sich allerdings nicht wie die eurer fabelhaften Götter, durch die Laster unserer Natur kund, sondern durch die Ausübung aller ihrer Tugenden. Ihn ihm vereinigt sich die strengste Sittlichkeit mit der zärtlichsten Liebe. Wäre er nur ein Mensch, so hätte er ein Gott zu werden verdient. Ihr ehret den Sokrates – er hat seine Sekte, seine Jünger, seine Schüler. Aber was sind die zweifelhaften Tugenden des Alterthums gegen die klare, unbestrittene, thätige, unablässige, sich hingebende Heiligkeit Christi? Ich spreche hier nur von seinem menschlichen Charakter. Er tritt in demselben auf als das Vorbild kommender Jahrhunderte, um uns die Gestalt der Tugend, die Plato verkörpert zu sehen wünschte, zu zeigen. Dies ist das Opfer, das er für die Menschen brachte. Aber die Herrlichkeit, die seine letzte Stunde umstrahlte, verstärkte nicht nur die Erde, sondern erschloß uns auch den Blick in den Himmel. – Du bist gerührt – Du bist bewegt. Gott wirkt in Deinem Herzen, sein Geist ist mit Dir. Komm, widerstrebe diesem heiligen Antriebe nicht; komm sogleich, ohne Bedenken. Einige von uns finden sich in diesem Augenblicke zur Auslegung des Wortes Gottes versammelt. Komm, laß Dich von mir zu ihnen führen. Du bist traurig und müde. Hier also das Wort des Herrn: ›Kommet zu mir,‹ sagt er, ›Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.‹«
»Ich kann jetzt nicht;« sagte Apäcides; »ein anderes Mal.«
»Jetzt! Jetzt!« rief Olinth mit Eifer, und faßte ihm beim Arme. Aber Apäcides war noch nicht vorbereitet zur Entsagung jenes Glaubens und jenes Lebens, dem er so viel geopfert hatte, sondern riß sich, noch immer von den Versprechungen des Egypters eingenommen, gewaltsam aus dieser Umarmung los. Da er ferner fühlte, daß eine besondere Anstrengung nöthig sei, um die
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