Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
entlang, stockte, wanderte weiter, erreichte ein zweites Regal.
Das machte auf Mathilda nicht den Eindruck, als wäre er sich des Verstecks wirklich sicher. Voller Ungeduld verschränkte sie die Arme vor der Brust, sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Um sich abzulenken, rief sie sich die unendliche Kette Ave-Marias aus ihrer Kindheit ins Gedächtnis, die die Wirtschafterin ihrer Eltern in verzweifelten Situationen zu beten pflegte.
»Da ist es!«, rief Tönnies und bückte sich, um aus einem Fach auf Kniehöhe zwei breite schwarze Folianten auseinanderzuschieben und dazwischen einen weitaus dünneren Band hervorzuziehen. Übertrieben wischte er ihn mit dem Ärmel seines schwarzen Rocks sauber, pustete gar den nicht vorhandenen Staub von dem Einband und überreichte ihn Mathilda mit einer tiefen Verbeugung.
Ihr Herz machte einen Satz. Das war tatsächlich der Lederband, den sie in den letzten Jahren so oft bei Urban gesehen hatte. Beglückt drehte sie ihn in ihren Händen, betrachtete ihn von allen Seiten. Abends vor dem Zubettgehen hatte der Vetter bei einem flackernden Talglicht am Tisch in der Wohnstube gesessen und seine Eindrücke über das Geschehen im Herzogtum festgehalten. Ihre Finger zitterten, als sie die Seiten aufblätterte, die eng mit seiner akribischen Kanzleischrift beschriebenen Zeilen überflog.
»Hier ist der zweite«, unterbrach Tönnies ihr Lesen und gab ihr einen weiteren Band, der etwas kleiner im Format war, aber von der Schrift her eindeutig aus Urbans Feder stammte.
»Er hat zwei Notizbücher gehabt?« Erstaunt sah sie auf.
»Das ist wohl der entscheidende Punkt für Eure Base. Sie hat mir nur wenig dazu erklärt, als sie mir die beiden Bücher in Thorn anvertraute. Polyphemus muss sie, ähnlich wie ich jetzt, in der herzoglichen Bibliothek in Königsberg versteckt haben, denn in den Büchern wird etwas geschildert, was dem herzoglichen Hausvogt Göllner missfällt. Deshalb ist er seit Jahren hinter ihnen her. Da die Aufzeichnungen nicht vollständig sind, wollte Eure Base mit dem alten Singeknecht darüber sprechen, ob er die Lücken darin mit seinen Schilderungen füllen könnte.«
»Danke«, erklärte Mathilda knapp, schlug die Bücher zu und presste sie fest gegen die Brust, als gälte es, sie schon in der Libraria gegen begehrliche Hände in Schutz zu nehmen. Eine dunkle Ahnung erfasste sie, was es mit dem ersten Band von Urbans Chronik auf sich haben musste. Da das nunmehr als zweites Buch zu bezeichnende mit seiner Ankunft in Königsberg einsetzte, musste sich im ersten alles um die Zeit vor Gründung des preußischen Herzogtums drehen, also genau um jene Jahre, in denen Albrecht von Brandenburg-Ansbach noch der junge Hochmeister des Deutschen Ordens und ihr Vetter Urban sein enger Vertrauter und rechtlicher Beirat gewesen war. Genau um jene Zeit hatten sie sich in Nürnberg aufgehalten, die Stadt, die einst auch ihre Heimat gewesen war. Ein weiterer blutjunger Rechtsgelehrter war damals aus Prag zu ihnen gestoßen – Egbert Göllner. Kaum sah Mathilda die düstere Gestalt des vor zwei Jahren in die Dienste Albrechts zurückgekehrten Mannes wieder vor sich, beschlich sie eine furchtbare Ahnung. Göllners unheilvoller Einfluss musste längst bis nach Krakau reichen, anders war Doras Angst um Urbans Aufzeichnungen wie auch ihre Verhaftung und die Durchsuchung ihres Gepäcks nicht zu erklären. Der Schlüssel zu alldem fand sich in den beiden dünnen Oktavbänden wie auch beim alten Veit Singeknecht.
»Ihr habt mir sehr geholfen«, erklärte sie mit rauher Stimme. »Endlich weiß ich, was ich zu tun habe. Meine lähmende Traurigkeit ist dank Euch tatsächlich vorbei.«
Bevor er sie fragen konnte, eilte sie aus der menschenleeren Bibliothek, ließ sich im Vorraum von dem Diener ihre Schaube reichen, verbarg die beiden Bücher darin und lief vom Collegium Maius zunächst zurück ins Gasthaus in der Floriansgasse.
19
M athilda zitterten die Finger, als sie die ersten Seiten von Urbans Aufzeichnungen aufblätterte. Rasch war sie allerdings so tief in die Schilderungen seiner frühen Jahre im Dienst des damaligen Hochmeisters Albrecht von Brandenburg-Ansbach versunken, dass sie kaum wahrnahm, wie die Magd ihr Schlafgemach im Gasthaus betrat und ihr eine Schüssel dampfender Suppe sowie eine Kanne mit Bier brachte.
»Stell alles auf den Tisch«, befahl sie unwirsch. Das verschüchterte Mädchen gehorchte und verschwand gleich wieder. Hastig löffelte Mathilda ein wenig Suppe, trank
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