Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
verschenkt zu haben, schmerzte zutiefst. Nur in nebensächlichen Andeutungen tauchte sie in Urbans Aufzeichnungen auf. Keine einzige Zeile war sie dem Vetter je wert gewesen! Ihr wurde übel, sie meinte die vorhin verschlungene Suppe erbrechen zu müssen. Mit dem Ärmel ihres schwarzen Kleides tupfte sie sich Schweißperlen von den Schläfen, trank schließlich den letzten Rest Bier aus der Kanne. Abermals quälten sie die Erinnerungen: Hätte sie nicht gleich bei ihrer Ankunft in der Königsberger Altstadt wissen müssen, wie es für sie stand? Zwar hatte Urban sie damals freundlich bei sich aufgenommen, nie aber Anstalten gemacht, ihr näherzukommen. Ihr Angebot, ihm den Haushalt zu führen, hatte er nur widerstrebend angenommen, hatte sie sich ihm doch eher aufgedrängt als höflich angetragen. Kein einziges Mal hatte er sich anmerken lassen, ob er von ihren wahren Gefühlen wusste. Geflissentlich war er jedem noch so zaghaften Versuch, ihn für sich zu gewinnen, aus dem Weg gegangen. Stattdessen hatte er ihr eines Tages mit leuchtenden Augen von der bevorstehenden Heirat mit Dora erzählt, ihr seine Braut kurz darauf stolz vorgeführt. Sie schluchzte heftig auf, als erlebte sie jenen demütigen Moment noch einmal. Ein Blick hatte ihr genügt, um sofort eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Dora und einer vor zwanzig Jahren jung gewesenen Wirtstochter am Nürnberger Frauentor festzustellen. Zuerst hatte sie Urban darauf ansprechen wollen, sich dann aber jede Andeutung versagt. Viel zu klar war ihr auf einmal gewesen, was sie damit anrichten würde.
Wie recht sie daran getan hatte, bewies ihr nun die Lektüre seiner Aufzeichnungen. Ganz bewusst hatte Urban Dora zur Frau gewählt, weil ihr Anblick ihn an jene andere erinnerte, die er einst so unglücklich geliebt und für deren Untergang er sich zeit seines Lebens die Schuld gegeben hatte. Kein Wunder, dass er Dora mit all ihren Launen und abstrusen Einfällen stets auf Händen getragen, ihr jeden noch so abwegigen Wunsch erfüllt hatte. Sogar ihre törichte Vorstellung, eine echte Baumeisterin zu sein, hatte er nur zu gern unterstützt. Viel zu groß wähnte er seine Schuld der anderen gegenüber, viel zu eifrig war er darauf bedacht, sie an ihrer statt bei Dora wiedergutzumachen. Verächtlich schnaubte Mathilda, sah wieder zum Fenster hinaus.
Der Regen hatte aufgehört, ein schwacher Strahl Sonnenlicht kämpfte sich durch die Wolken, um dem scheidenden Tag eine letzte Ehre zu erweisen. Auf einmal erkannte sie die Umrisse des gegenüberliegenden Hauses, erblickte an der Fassade etwas, das ihr bekannt vorkam. Sie presste die Nase gegen das Fensterglas, starrte angestrengt hinüber. Dann wusste sie es, es war ein Zierat, der ihr auch in Marienwerder schon begegnet war. Die Fensterstürze waren damit umrankt. Meister Jagusch hatte sie darauf hingewiesen. Mit der Erinnerung an diese Begegnung überfiel sie plötzlich Scham. Gerade war sie dabei, sich äußerst kleinmütig zu gebärden und damit genau das zu tun, was ihr in Marienwerder so erschreckend vor Augen gestanden hatte. Gab sie nicht besser acht, verbitterte sie tatsächlich. Dann endete sie so wie die verhärmte Wirtsmagd in Marienwerder. Hatte ihr nicht Meister Jagusch mit seinen Erzählungen über den einst jungen Wenzel Selege einen Weg gezeigt, wie sie genau das verhindern konnte? Dora sollte sie zu ihrem Weg als Baumeisterin ermuntern und ihren Vater dazu anhalten, sich seiner wahren Leidenschaft, dem Bierbrauen, hinzugeben. Nur wer sich seine Leidenschaft erlaubte, fand das, was sich alle vom Leben erhofften – Erfüllung und Zufriedenheit.
Jäh sprang Mathilda auf, stieß dabei den dreibeinigen Schemel achtlos um. Eilig warf sie sich die immer noch feuchte Schaube um, raffte die beiden schmalen Bücher zusammen und eilte hinaus. Wenn sie Glück hatte, war es noch lange genug hell, um nach Kazimierz zu den Singeknechts zu gelangen. Vage erinnerte sie sich an die Wegbeschreibung, die Feliks Baranami letztens gegeben hatte. Leider war sie an jenem Vormittag nicht wie ursprünglich geplant mit den Kaufleuten zu den Singeknechts gegangen. Stattdessen hatte sie in ihrem Schlafgemach auf Dora gewartet, die im Morgengrauen ohne eine Nachricht verschwunden war. Hätte sie doch nur unten in der Gaststube gesessen. Vielleicht hätte sie die Verhaftung verhindern können.
Unsinn!, schalt sie sich. Wie hätte sie als Frau etwas gegen den Gerichtsvogt und seine bewaffneten Büttel ausrichten sollen? Sie
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