Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
durstig von dem kühlen Bier und wandte sich wieder der Lektüre zu. Zum Lesen hatte sie sich einen Schemel nah vors Fenster gerückt. Das Licht war dort besser als am Tisch, also nahm sie den unbequemen Schemel ohne Rückenlehne wie auch die zugigen Fensterschlitze gern in Kauf. Beides vergaß sie, sobald sie die nächsten Zeilen gelesen hatte.
Als sie zur letzten Seite kam und damit bei den Ereignissen kurz vor Urbans Unfalltod auf der Baustelle angelangt war, hatte das Tageslicht bereits kräftig abgenommen. Verwundert sah sie auf, schlug das zweite Buch zu. Ihr Blick glitt durch die gelbgrünen Butzenfenster nach draußen. Nach wie vor prasselte der Regen gegen die Scheiben, kaum reichte der Blick bis zur gegenüberliegenden Häuserreihe. Gedankenverloren starrte Mathilda vor sich hin.
Wie am Mittag in der Libraria befürchtet, wusste sie nun umso deutlicher, warum die beiden schmalen Lederbände besser zwischen fremden Büchern in der Krakauer Universitätsbibliothek denn in Doras Felleisen aufgehoben waren. Gerieten sie in falsche Hände, was mit Sicherheit Göllners Hände waren, würde der Herzog für immer ein völlig falsches Bild von Urban und gewissen Vorfällen in Nürnberg vor gut zwei Jahrzehnten erhalten. Mathilda wurde unruhig. Grübelnd lehnte sie die Stirn gegen das kühle Fensterglas.
Einzelne Satzfetzen aus den Aufzeichnungen schwirrten ihr durch den Kopf, dazu gesellten sich eigene Erinnerungen an Ereignisse, die sie zu Urbans jungen Jahren in Nürnberg miterlebt hatte. Seinerzeit war sie mit ihren vierzehn Jahren nicht viel älter gewesen als Lienhart jetzt. Groß und sehr männlich war ihr der junge Vetter damals erschienen, ein wahrer Ausbund an Tugend und Klugheit. Entgegen ihrer Absicht musste sie schmunzeln. In jenen Jahren hatte sie beschlossen, ihm überallhin auf Erden zu folgen und ihm dienend zur Seite zu stehen, ein Leben lang. Als Graumäntler des Deutschen Ordens hatte er zwar kein Gelübde abgelegt und gehörte auch nicht dem geistlichen Stand an, dennoch schien es undenkbar, dass er eines Tages heiraten würde. Umso entschlossener war sie gewesen, sich ganz der Liebe zu ihm zu opfern und seinetwegen ebenfalls auf eine Ehe zu verzichten. Niemandem hatte sie von ihren Plänen erzählt. Zu gewiss war ihr die Ablehnung gewesen, auf die sie damit gestoßen wäre. Zwischen Urban und ihrem Vater waren oft heftige Auseinandersetzungen entbrannt. Mehrmals hatte der Vater seinem Unmut über den viel zu jungen Hochmeister und seine ihn umgebenden Kumpane Luft gemacht, was der Vetter zu Recht als Angriff auf seine eigene Person verstanden hatte. Dann aber war plötzlich Ruhe eingekehrt. Albrecht hatte mitsamt seinem Gefolge, zu dem natürlich auch Urban zählte, die Stadt verlassen. Es hieß, fortan sei Albrecht Herzog in Preußen, suche sich eine Frau und dränge auch seine Gefährten zur Heirat. Luther selbst habe ihm das geraten. Bang hatte Mathilda darauf gewartet, Nachrichten über das weitere Schicksal ihres Vetters aufzuschnappen. Leider aber hatte sich ihr Vater über den entfernten Vetter fürderhin ausgeschwiegen. Nur äußerst spärlich waren Berichte über das Schicksal der früheren Kreuzherren nach Nürnberg gedrungen. Im Alter von zwanzig Jahren hatte Mathilda deshalb beschlossen, nicht, wie von den Eltern gewünscht, als Pflegerin ins Heilig-Geist-Spital einzutreten, sondern sich auf den Weg nach Nordosten zu machen, um ihren Schwur, dem Vetter lebenslang zur Seite zu stehen, endlich in die Tat umzusetzen.
Zwanzig Jahre später saß sie im polnischen Krakau, hielt Urbans Aufzeichnungen in der Hand und erfuhr daraus erstmals, was er in jenen Tagen wirklich erlebt, welchen Ränkespielen er seitens Göllners ausgesetzt gewesen war und warum er sich deshalb auch mit ihrem Vater und seiner gesamten Familie überworfen hatte. Zu allem Überfluss war es Göllner vor zwei Jahren gelungen, den Herzog endgültig auf seine Seite zu ziehen und Urban am Ende seines jahrzehntelangen aufopferungsvollen Dienstes aufs schändlichste zu verleumden. Und das für ein Vergehen, das Göllner in Wahrheit selbst begangen hatte! Lautlos begann sie zu weinen. Sie bemerkte es erst, als ihr die Tränen bereits kräftig über die Wangen liefen. Erstaunt über sich selbst, schüttelte sie den Kopf, wischte die Wangen mit den Handrücken trocken.
Es war jedoch nicht allein der Kummer über Urbans Schicksal, der sie zum Weinen brachte. Auch die Erkenntnis, die eigene Jugend völlig sinnlos an ihn
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