Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
zusammen. Die Nadelspitze hing in der Fingerkuppe des linken Zeigefingers. Noch spürte sie den Schmerz kaum. Zog sie gleich die Nadel vorsichtig heraus, würde es nicht nur heftig zu bluten beginnen, dann würde auch der pochende Schmerz erwachen. Schon rötete sich die Einstichstelle. Gebannt starrte sie auf den Finger. Ein kühner Gedanke kam ihr: Sie würde die Nadel einfach stecken lassen. Wozu sollte sie noch auf sich achtgeben? Die Tage verstrichen, ohne dass etwas für ihre Rettung geschah. Ihr Zusammentreffen mit der Königin und die leidige Begegnung mit Göllner lagen auch schon wieder mehr als eine Woche zurück. Weder hatte sie seither etwas von Bona Sforza gehört noch über deren jüdische Hofdame Chwałka eine Nachricht erhalten. Sie war wohl einem gewaltigen Irrtum aufgesessen, als sie geglaubt hatte, die Begeisterung der Königin für die Baukunst würde ihr das Leben retten. Wer war sie auch schon im Vergleich zu den großen italienischen Baumeistern, die sich bei Bona Sforza die Klinke in die Hand gaben? Gewiss hatte die Königin längst ihre Begegnung vergessen und auch die ihr so kostbaren Notizbücher achtlos beiseitegelegt. Bitterkeit machte sich in ihr breit. Sie presste die Lippen aufeinander, betrachtete weiter die gerötete Fingerkuppe mit der Nadel darin. Selbst von Mathilda verlautete nichts, und ihre angeblich so entschlossenen Retter Baranami und Gottlieb schienen wie vom Erdboden verschluckt. Je eher sie die Hoffnung begrub, jemals freizukommen, je leichter war das zu ertragen. Das Schlimme war jedoch weniger die Aussicht, für immer im Kerker zu vergammeln oder doch auf dem Scheiterhaufen zu landen. Die Vorstellung, Johanna nicht mehr wiederzusehen und zugleich zu wissen, als Mutter völlig versagt zu haben, bereitete ihr allergrößte Qualen. Bei dem Gedanken wurden ihr die Augen feucht.
Plötzlich aber versetzte ihr jemand einen heftigen Stoß in die Seite. Die taubstumme Alte gab ihr aufgeregte Zeichen, die Nadel endlich herauszuziehen. Als sie trotzdem zögerte, beugte sie sich über sie und tat es an ihrer Stelle. Dora unterdrückte einen leisen Fluch. Zugleich aber spürte sie Erleichterung in sich aufsteigen. Das Blut pochte nur kurze Zeit aus der Fingerkuppe. Geschickt schlang die Alte einen Leinenstreifen darum, band den Finger gekonnt ab. Sofort ließ der Schmerz nach.
Verwundert sah Dora auf das Nähzeug in ihrem Schoß. Kein einziger Tropfen Blut war darauf gefallen. Auch ohne dass die Alte sich verständlich machen konnte, ahnte sie, wie wichtig ihr das war. Immerhin handelte es sich um Wäsche aus dem Königsschloss, die auszubessern ihr anvertraut war. Es hatte Dora viel Überredungskunst gekostet, ihr dabei zur Hand gehen zu dürfen. Das tatenlose Herumsitzen in der Dachkammer hätte sie sonst zum Wahnsinn getrieben. Hätte sie jetzt aber das Weißzeug beschmutzt, hätte die Alte das an ihrer Stelle ausbaden müssen. Dabei wäre gewiss auch an höhere Stellen gemeldet worden, dass sie Dora eigenmächtig mit auf die Bank vor ihrem Haus genommen hatte. Die beiden Wachleute duldeten das zwar seit einigen Tagen stillschweigend, Dora war sich jedoch sicher, dass weder sie noch die Alte bei der entsprechenden Stelle um Erlaubnis gefragt hatten.
»Es tut mir leid«, erklärte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Das war sehr ungeschickt von mir. Ich verspreche Euch, meine Gedanken künftig besser zusammenzuhalten, damit so etwas nicht mehr vorkommt.«
Einen Moment hatte es den Anschein, als verstünde die taubstumme Alte sie tatsächlich. Dora meinte ein verständnisvolles Zucken um ihre Mundwinkel zu erkennen. Dann aber verschloss sich ihre Miene wieder. Die Hand, die sie ausgestreckt hatte, um ihr das Nähzeug abzunehmen, verharrte allerdings noch kurz in der Luft, dann zog sie sie zurück und bedeutete ihr mit einem Nicken, weiternähen zu dürfen.
»Danke Euch!« Erleichtert griff Dora wieder nach der Nadel. Der Verband um den linken Zeigefinger erschwerte die Bewegungen zwar, zumal sie den Finger abspreizte, um sicherzugehen, dass das Leinen nicht durchblutete und das Nähzeug befleckte, dennoch war sie froh, weitermachen zu dürfen. Wieder allein in der Dachkammer zu versauern wäre eine furchtbare Strafe gewesen. Sie lehnte den Rücken gegen die sonnenwarme Hauswand und versank bald wieder in der Stopfarbeit, als hätte sie nie etwas anderes getan.
»Aufhören!« Die barsche Männerstimme ertönte direkt vor ihr. Als sie den Blick hob, gewahrte sie zunächst nur
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