Die Liebe des Kartographen: Roman
Was sie gestern übermüdet nur am Rande wahrgenommen hatte, empfing sie nun mit voller Wucht: die Fruchtbarkeit und Wärme der Stadt, die dem Winter trotzte mit allem, was ihr zur Verfügung stand. Im Hintergrund erhob sich die schneebedeckte Ewigkeit der Alpen gegen einen leinblumenblauen Himmel, doch die Hügel rings um Meran waren frei vom Schnee. Manche der Obstbäume, die zu Hunderten die Hänge hinaufwuchsen, hatten einen Teil ihres Blätterkleides gerettet, dazwischen standen Weinstöcke, die ebenfalls etwas altes Grün aufwiesen. Direkt vor Michaels Haus war eine Aussparung zwischen den Pflastersteinen, und dort ragte ein Nadelbaum in die Höhe, wie Xelia noch keinen gesehenhatte. Sie musste unbedingt jemanden fragen, wie dieses Gehölz hieÃ!
Die Sonne wärmte ihr Gesicht. Von unten hörte sie aufgeregtes Hundegebell und eine Männerstimme, die wahrscheinlich zu dem kleinwüchsigen Adolf gehörte. Sie hatte Lola über Nacht in der Küche gelassen und wollte Michael heute fragen, ob er überhaupt einen Hund in seinem Haus erlaubte. Wenn nicht, musste sie ihr im Garten hinter dem Haus einen Stall bauen. Doch in ihrem Innersten war Xelia davon überzeugt, dass Michael Hyronimus sich nicht an dem kleinen Tier stören würde.
Sie zog ihre Schuhe und die Jacke an und stieg mit schmerzenden Knien die Treppe hinab. Sie konnte es kaum erwarten, mit Adalbert zu reden. Was war zwischen ihm und Eulalia gewesen? Wie war sie von Tübingen auf die Alb gekommen und wann? Und warum hatte sie den Gerber geheiratet, wo Adalbert sie doch so sehr geliebt hatte? Was konnte so schlimm sein, dass es zwei Menschen auseinander brachte? Sosehr ihr diese Fragen auf der Zunge brannten, musste sie sich dennoch gedulden â Adalbert brauche dringend Ruhe, hatte Michael gemeint, der seinen Bruder sofort nach ihrer Ankunft untersucht hatte. Die Erfrierungen an seinen FüÃen seien nicht besorgniserregend, aber das lange Ausharren in der Kälte und der vorangegangene Marsch hätten sämtliche Kräfte in ihm aufgezehrt. Und nach dem, was er aus Philips kurzer Erzählung schlieÃen konnte, sei die Zeit bei den Aussätzigen für Adalbert auch keine Erholung gewesen â¦
Michael. Er und Adalbert waren wirklich aus dem gleichen Holz geschnitzt! Keine dummen Fragen nach dem Woher und Warum, als plötzlich mitten in der Nacht ein Schlitten vor seiner Tür anhielt, der ihm seinen todkranken Bruder sowie zwei Fremde brachte. Kein Hadern oder Zögern wegen der Umstände, die ihr plötzlicher Besuch sicherlich machte. Er hatte Xelia mit Herzenswärme umarmt, so dass sie ihm gegenüber von Anfang an dieselbeVertrautheit spürte wie bei Adalbert. Sie freute sich darauf, Michael Hyronimus kennenzulernen! Ihn und die anderen Hausbewohner, die letzte Nacht bei ihrer Ankunft nur kurz aus ihren Kammern herausgeguckt hatten: Giuseppa, die Magd, die kaum älter zu sein schien als Xelia, und Adolf, der so klein war wie ein Kind, aber das Gesicht eines alten Mannes hatte. Welche Aufgaben er in Michaels Spital hatte, wusste Xelia noch nicht, aber es gab sicher eine Menge zu tun in einem so groÃen Haus.
Ãberhaupt â das Haus. Nach Adalberts Schilderung hatte sie sich etwas ganz anderes vorgestellt, eine Hütte vielleicht, bei der in Flickarbeit Wand für Wand wie die Jahresringe eines Baumes entstanden waren. Nichts dergleichen war der Fall! Michaels Zuhause war groà und aus hellem Stein gebaut und hatte zwei Säulen vor der Tür, die nur den Zweck erfüllten, dem Auge des eintretenden Besuchers zu gefallen. Die Comtessa, die Michael aus lauter Dankbarkeit das Haus vermacht hatte, schien nicht nur groÃzügig zu sein, sondern auch reich!
An der untersten Treppenstufe angelangt, stieà Xelia einen tiefen Seufzer aus. Sie wusste nicht, ob es an der Umgebung lag, an Michaels schönem Haus oder daran, dass sie neben Philip aufgewacht war â jedenfalls fühlte sie sich ganz und gar zufrieden. Sie hatte weit reisen müssen, doch nun war sie angekommen.
Kurze Zeit später saà sie mit Michael zusammen am Tisch. Im Eingangsraum des Hauses warteten mehrere Mütter mit ihren Kindern darauf, dass der Arzt sich um die Kleinen kümmerte, doch Michael wollte es sich nicht nehmen lassen, seinen Gästen bei ihrem ersten Morgenmahl in seinem Haus Gesellschaft zu leisten. Dass nur Xelia wach war, war ihm gleichgültig. Er
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