Die Liebe des Kartographen: Roman
nun wie ein Opferlamm und begriff die Welt nicht mehr! Dabei war doch alles so einfach!
Warum hatte er ihr nicht schon viel früher erzählt, wohin ihre Reise ging? Kümmerte es ihn kein bisschen, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen sollte? Nicht, dass der Gedanke, unter Aussätzigen zu arbeiten, sie über alle MaÃen erschreckt hätte! Natürlich war er ihr nicht angenehm, das nicht. Aber sie verspürte auch nicht das Grausen, das andere empfanden, wenn von dieser Krankheit auch nur die Rede war: angstgeweitete Augen, die Stimme ein leises, gehetztes Flüstern, als würde man der Krankheit durch zu lautes Reden die Tür öffnen, verschreckte Blicke nach links und nach rechts und über die Schulter, als stünde der Tod schon direkt neben einem. Dass Adalbert Hyronimus bei den Sondersiechen arbeitete, war für sie eine Ãberraschung, auf die sie gern verzichtet hätte. Es war jedoch keine Nachricht, mit der sie nicht hätte leben können. Für Xelia war etwas anderes viel schlimmer: der Vertrauensbruch zwischen Philip und ihr, den sie wie einen klaffenden Riss in ausgetrockneter Erde vor sich sah. War das, was sie zwischen ihnen gespürt hatte, nichts gewesen als eine dumme Einbildung ihrerseits?
Die Kälte kroch durch die dünnen Ledersohlen ihrer Schuhe, ihre Zehen waren eiskalt und steif, und auch ihre Schenkel waren schon wie gelähmt. Der kleine Hund auf ihrem Arm zappelte. Wahrscheinlich war auch ihm kalt und bange zumute. Xelia spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Am liebsten hätte sie sich ihrer Erschöpfung hingegeben und Philip tun und machen lassen, wie er gedachte, solange er für sie und den Hund ein warmes und trockenes Nachtlager besorgte! Doch dann riss sie sich zusammen. Zum Jammern war nun nicht die Zeit, das konnte sie später noch zur Genüge â¦
Sie zupfte Philip am Ãrmel und wies ihn mit einem Kopfnicken an, ihr ein paar Schritte zur Seite zu folgen. Sein schlechtes Gewissen und seine Hilflosigkeit waren ihm ins Gesicht geschrieben.
»Hyronimus ist nicht tot!« Sie rüttelte an seinem Arm.»Der Wachmann meint, dass dein alter Lehrer selbst krank geworden ist. Am Aussatz erkrankt«, spie sie ihm entgegen.
Philip zuckte zusammen, sagte aber nichts.
Xelia hätte ihn erwürgen können. Ihr war klar, dass sie keine groÃe Hilfe von ihm erwarten konnte. Er würde weder den Wachmann dazu bringen, sein stures Maul aufzumachen, noch würde er sonst einen Plan in die Tat umsetzen. Wenn er überhaupt einen hatte â¦
Sie war es, die handeln musste.
Doch sie hatte absolut keine Ahnung, was sie nun machen sollten.
»Da stimmt etwas nicht«, flüsterte sie Philip zu, einer Intuition folgend. Wie eine Quelle, die gerade durch ein Bohrloch erschlossen worden ist, sprudelte ihr Instinkt an die Oberfläche und lieà sich durch nichts auf der Welt aufhalten. Und dieses Aufwallen war es, was sie davor bewahrte, sich auf der Stelle hinzusetzen und bis ans Ende ihrer Tage zu heulen. »Ich habâ so ein seltsames Gefühl. Schau mich nicht so an! Ich kannâs nicht anders erklären. Aber ich werdâ schon noch was aus dem Kerl herauskriegen!« Mit grimmiger Miene drehte sie sich auf dem Absatz um und ging auf den Wachmann zu. Ihren Hut nahm sie ab. Sollte er ruhig sehen, dass sie eine Frau war!
»Eine Saukälte ist das.« Sie schlug die Arme um sich und bibberte. Der Mann nickte und musterte sie von oben bis unten. Ob sie wohl eine Sondersieche war, die im Spital unterkommen wollte, schien sein Blick zu fragen. So, wie das Weib aussah, hatte es nicht den Anschein, aber was wollte sie dann hier? Und was wollten die beiden von dem kranken Arzt?
Scheu zu ihm aufschauend, fragte Xelia: »Wann hatâs den Arzt denn erwischt?«
»Vor ein paar Wochen«, knurrte der Wachmann. »Ganz plötzlich, wie ein Fluch. Aber Genaues weià ich nicht«, fügte er abwehrend hinzu.
»Und es gibt keine Möglichkeit, mit ihm zu reden? Mein Herr«, sie wies auf Philip, »und der Arzt haben zusammen studiert und wollten wichtige Nachrichten austauschen.« Sie hob die Augenbrauen in die Höhe, um damit ihren ironischen Ton noch zu unterstreichen. Ihr Schulterzucken sagte ihm, dass sie selbst das Ganze nichts anging.
Xelia hielt die Luft an. Wenn sie wenigstens mit Hyronimus sprechen könnten, dann â¦
»Darauf müssen die feinen Herrn wohl verzichten.«
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