Die Liebe des Kartographen: Roman
zusammen! « Je mehr Xelia über alles nachdachte, desto aufgeregter wurde sie. Trotzdem schluckte sie die nächsten Sätze erst einmal herunter. Sie wollte Philip Zeit lassen, selbst nachzudenken.
»Aber warum sollte ihm jemand diese Krankheit anhängen wollen?« Philip schüttelte mit dem Kopf. »Und überhaupt: Wie soll das funktionieren? Entweder man ist krank, oder man ist es nicht!«
Xelia musste unwillkürlich lachen. »Gibt es für dich wirklich nur schwarz und weià im Leben? Habt ihr über die ganzen Grautöne in euren feinen Schulen in Tübingen nichts gelernt?« Als sie seinen verletzten Blick sah, zwang sie sich zu etwas mehr Geduld. Fakten. Vielleicht würden ihn Fakten überzeugen. »Ich weià auch nicht alles über die Sondersiechen, nur so viel: Ihre Krankheit ist nicht leicht von andern zu unterscheiden! Ob jemand die Krätze hat oder den Aussatz â wie willst du das auf den ersten Blick feststellen? Bei Geschwüren und Knoten auf der Haut â wie willst du so genau wissen, woher die kommen?«
»Ich bin kein Arzt, ich kann so etwas nicht wissen!«, fuhr Philip auf.
»Auch Ãrzte tun sich schwer damit. Deshalb wird es auch nicht dem Urteil eines einzigen Arztes überlassen festzustellen, ob nun jemand am Aussatz leidet oder nicht. Meine Mutter wusste von einer so genannten Aussätzigenschau zu berichten, bei der mehrere Prüfmeister den vermeintlich Kranken ganz genau und von oben bis unten betrachten. Zu den Prüfmeistern gehören in der Regel zwei oder drei Ãrzte und mindestens ebenso viele Aussätzige selbst. So eine Untersuchung darf nur am helllichten Tag durchgeführt werden, und der Kranke muss sich dabei völlig nackt ausziehen.« Ein kalter Schauer überlief Xelia,dann fing sie sich wieder. Sie war erstaunt darüber, welche Einzelheiten ihr von dem so viele Jahre zurückliegenden Gespräch mit ihrer Mutter wieder einfielen. »Erst, wenn alle Prüfmeister davon überzeugt sind, dass es wirklich der Aussatz ist und nicht die Krätze oder etwas anderes, muss der Kranke zu den Sondersiechen.«
Philips Miene war angespannt. »Und woher wusste deine Mutter das alles so genau?«
Xelia zuckte mit den Schultern. »Mutter hat nie viel über ihr Leben geredet, über die Zeit, bevor sie Feltlin geheiratet hat. Ich weià bis heute noch nicht, wo sie eigentlich herkam â kannst du dir das vorstellen? Eine Leinstettenerin war sie jedenfalls nicht. Und jetzt werdâ ichâs auch nie mehr erfahren â¦Â«
»Aber angenommen, dieses Verfahren ist so, wie du sagst. Dann wäre das doch eine sichere Angelegenheit. Wie kommst du darauf, dass dabei jemand fälschlicherweise des Aussatzes bezichtigt werden könnte?«
Xelia schloss für einen Moment die Augen. Sie war so unendlich müde. Heute Morgen hatte sie noch gehofft, sich am Abend endlich in Sicherheit wiegen zu können, und nun? Aus warâs mit jeder Sicherheit. Stattdessen musste sie anstrengende Fragen beantworten, die Adalbert Hyronimus betrafen. Den Mann, der eigentlich ihr Retter hätte sein sollen! Ein trockenes Lachen entfloh ihrer Kehle. Wer morgens lacht, muss abends weinen , hieà es nicht so?
»Dieses Verfahren ist nicht das Schlechteste. Aber sicher ist es nicht! Das wäre es nur, wenn alle Menschen rein und edel wie Engel wären. Aber schau dich doch um! Für ein paar Heller verkauft doch jeder seine eigene Mutter!« Sie hielt inne â warum war sie sich eigentlich so gewiss mit dem, was sie sagte? Entschlossen fuhr sie fort: »Nach allem, was du von Hyronimus erzählt hast, scheint er ein Mann zu sein, der sich durchaus auch Feinde macht.«
Dagegen konnte Philip nichts sagen.
»Angenommen, Hyronimus ist dort im Spital irgend jemandemauf die FüÃe getreten? Vielleicht hat er sich mit jemandem angelegt, der etwas zu sagen hat? Was läge da näher, als einen unliebsamen Querulanten mundtot zu machen?«
Philip schüttelte mit dem Kopf. »Wenn sie mit ihrem Spitalarzt aus irgendwelchen Gründen nicht zufrieden waren, hätten sie Hyronimus doch einfach vor die Tür setzen können.«
Damit hatte er nicht unrecht. Ganz genau konnte Xelia sich auch nicht vorstellen, was vorgefallen sein mochte. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war. »Vielleicht wollten sie nicht, dass Hyronimus drauÃen unliebsame
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