Die Liebe des Kartographen: Roman
Erst im Laufe unseres Briefwechsels begann ich, den Mann ein wenig besser zu verstehen. Heute weià ich, dass er ein Mensch ist, der sich nicht mit einer Dimension des Lebens zufrieden gibt. Das lässt seine Neugier nicht zu. Er will mehr erfahren vom Leben und von den Menschen.«
»Und du warst ihm nicht neugierig genug«, stellte Xelia fest.
Philip blieb abrupt stehen. »Ja. Das muss es gewesen sein.«
Auf einmal fühlte er sich gar nicht mehr wohl in seiner Haut. Er hatte das Gefühl, etwas abschütteln zu müssen, und wusste nicht, was. Lauter ungute Gedanken jagten wie Pferde vor ihm her, und er hätte eines nach dem andern einfangen und zähmen müssen. Stattdessen trieb er sie davon. Das war einfacher, zumindest im Augenblick. Doch einen Gedanken wurde er dennoch nicht los:
Er hatte Xelia immer noch nicht erzählt, dass Hyronimus in einem Spital für Aussätzige arbeitete.
Drei Tage später kamen sie vor den Toren Blaubeurens an.
~ 36 ~
Den Arzt Adalbert Hyronimus gibt es nicht mehr. Den hat der Aussatz selbst erwischt.«
»Waas?« Philip war so sprachlos, dass ihm der Mund offen stehen blieb. Adalbert tot?
Es war fast dunkel. Zu dieser Zeit machte sich jedes Dorf fertig für die Nacht. Hinter den Mauern der Aussätzigensiedlung hingegen herrschte Totenstille: keine eiligen Schritte auf Pflastersteinen, kein Blöken von milchschwerem Vieh, kein Geklapper von Kupferkesseln und anderen Kochgeräten waren zu hören. Keine Männer, die ihre Weiber beschimpften, oder Weiber, die zurückkeiften â hinter der hohen Mauer hätte sich ebenso gut ein Friedhof verbergen können!
»Was heiÃt das, den Hyronimus hatâs erwischt?« Philip machte einen Schritt auf den Wachmann zu, der breitbeinig und wie angewurzelt vor dem Tor der Siechensiedlung stand. »Melde uns an und lass uns ein!« Er spürte Panik in sich aufwallen, wie kochende Milch, die jeden Augenblick überzuschwappen droht. Was sollte nun aus seinem sorgfältig durchdachten Plan werden? Er wollte sich nicht einfach abwimmeln lassen! War Hyronimus einer Krankheit erlegen â Gott hab ihn selig â, dann musste er ihm doch die letzte Ehre erweisen, oder? An Xelia und an alles andere mochte er nicht einmal denken.
Ein Schulterzucken, der Anflug eines schadenfrohen Grinsens waren die Antwort seines Gegenübers. »Hier gibtâs keine Krankenbesuche! Das wäre ja noch schöner, wenn jeder kommen und gehen könnte, wieâs ihm gerade gefällt. Bald wärâ unsere ganze Stadt von der elendigen Seuchâ befallen!«
Neben ihm schnappte Xelia nach Luft. Kleine, kurzeAtemzüge, die weiÃe Wolken im dunkler werdenden Himmel stehen lieÃen. Die hohen Mauern, der Wachmann, das Besuchsverbot â Aussätzige? Dazu Philips schuldbewusste Miene, seine Augen, die sich vor ihren Blicken zu versteckten versuchten. Wohin wollte er sie bringen? Wo waren sie hier angelangt?
Philip stellte dem Wachmann alle möglichen Fragen. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern und schaute sein Gegenüber aus trägen Augen an. Xelia wusste, dass sie mehr aus dem Mann herausbekommen hätte, doch sie war wie gelähmt, konnte keinen Schritt tun, ihre Zunge war taub, und ihr Kopf weigerte sich, die unseligen Verbindungen zu knüpfen, die zur Wahrheit zu werden schienen.
Als sie kurz vor den Toren der Stadt einen Abzweig nach rechts genommen hatten, hatte sie sich eigentlich nichts dabei gedacht. Vielleicht lag Adalberts Behausung auÃerhalb der Stadtmauern? Auch, als Philips Schritte immer schneller wurden und er mit Alois auf dem schmalen Weg eine Pferdelänge vor ihr marschierte, hatte sie seine Eile der Freude zugeschrieben, bald den alten Freund wiederzusehen.
In Wirklichkeit war er ihr ausgewichen, hatte er mit einer längst fälligen Erklärung hinter dem Berg gehalten. Bis jetzt!
Wie ein in der Märzsonne dahinschmelzender Eiszapfen taute langsam ihr Denkvermögen wieder auf. Sie begriff, was der Wachmann mit seinen Worten meinte, obwohl sich ihr Inneres immer noch mit aller Macht dagegen stemmte. Und sie begriff alles andere: Hyronimus hatte in einer Siedlung, in der nur Aussätzige lebten, gearbeitet. Verschlossen hinter hohen Mauern, mussten die armen Kranken ihr Dasein fristen. Hierher also hatte Philip sie gebracht. Sie schaute zu ihm hinüber und wusste nicht, ob sie ihn dafür hassen sollte. Da stand er
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