Die Liebe des Kartographen: Roman
ist ja wie eine Geisterstadt, alles tot! Irgendwelche Leute müssen doch kommen und gehen, Arzte, Kaufleute, Handwerker! Und dann â ist es nicht gang und gäbe, dass Aussätzige betteln gehen? Von was leben die Kranken da drinnen, wenn nicht vom Betteln?« Das erfolglose Warten zehrte an ihr, und sie spürte, wie ihr Vorsatz, die Wahrheit über Hyronimus zu erfahren, langsam, aber sicher dahinschwand wie ein Eiszapfen in der Wintersonne. Sie kannte den Mann ja noch nicht einmal!
»Wahrscheinlich dürfen sie das nur an besonderen Tagen. Ich erinnere mich daran, dass in Reutlingen â oder war es in Schorndorf? â die Siechen nur zu Ostern in die Stadt durften, um zu betteln. Just zu diesem Zeitpunkt musste ich mich dort aufhalten! An allen Ecken und Enden haben sie am Gründonnerstag gestanden, mit ihren Schellen in der Hand und ihren schwarzen Kutten, einer grausiger anzusehen als der andere. Brrr!« Philip schüttelte sich. Er hatte Mühe, seinen starr gewordenen Kiefer auseinanderzubringen, so sehr setzte die Kälte ihm zu. »AuÃerdem: Wenn Hyronimus wirklich gegen seinen Willen festgehalten wird, dann würden sie ihn sowieso nicht herauslassen, oder?«
Xelia hörte den unterschwelligen Vorwurf in seiner Stimme und wollte gerade etwas erwidern, als ein dunkler Schatten vor dem Tor auftauchte. »Da ist wer!« Sie rüttelte an Philips Arm. Zwei von oben bis unten vermummte Gestalten waren erschienen. Kaum durch das Tor, nahmen sie ihre Kopftücher ab, als könnten sie es kaum erwarten, sie loszuwerden. Aussätzige waren das nicht, zumindest sahen sie kein bisschen danach aus.
»Zwei Frauen. Was haben die denn da zwischen sich?« In der Kälte tränten Philips Augen, und er musste immerwieder einen feuchten Schleier wegwischen. »Verflixt noch mal, warum kommen die nicht näher?«
Lachen drang nun zu ihnen herüber. Die eine hob gerade ihren Rock und schien dreist mit dem Wachmann zu schäkern, was ihr einen groben Stoà von der anderen einbrachte. Endlich zogen sie weiter, einen Leiterwagen, randvoll mit Leinen, Laken und schmutziger Wäsche, zwischen sich.
Wieder schauten Philip und Xelia sich an, und diesmal umspielte ein Lächeln ihre Lippen. War das die Möglichkeit, auf die sie gewartet hatten?
»Ich kannâs nicht glauben â schau, wo die hingehen!« Entgeistert beobachteten sie, wie die beiden Weiber den schmalen Feldweg einschlugen, der zu dem Hof führte, in dem sie Alois untergestellt hatten. Als die beiden hinter der ersten Wegbiegung verschwunden waren, kamen Philip und Xelia aus ihrem Versteck und folgten ihnen wortlos. Der Leiterwagen rumpelte auf dem unebenen Boden. Immer wieder blieb die Ãltere der beiden stehen, streckte sich und rieb sich das Kreuz. Ihr Jammern war nicht zu überhören, schien jedoch auf taube Ohren bei der Jüngeren zu stoÃen, die mit stoischem Gleichmut den Wagen weiterzog.
Unwillkürlich gingen auch Xelia und Philip langsamer. Solange sie nicht wussten, wie sie die beiden Frauen ansprechen sollten, ergab es keinen Sinn, sich bemerkbar zu machen.
»Vielleicht wohnen die beiden auf dem Hof?« Philip weigerte sich, in allem ein Geheimnis zu sehen â es musste doch für einige Dinge auch noch ganz normale Erklärungen geben, oder?
»Als ich heute Morgen wegen dem Brot anklopfte, hat mir der Bauer geöffnet, sein Weib habâ ich nicht gesehen. Wahrscheinlich war sie schon weg.«
»Aber wenn das Bauersfrauen sind, was haben die dann im Spital zu suchen gehabt?«
Plötzlich blieben die beiden samt Wagen stehen und drehten sich um.
Philips Miene war grimmig. »Das werden wir wohl früher herausfinden, als wir dachten.«
~ 39 ~
A lles schien bestens zu laufen. Nachdem die beiden Frauen sie auf dem Weg zum Hof abgepasst hatten, waren sie das letzte Stück gemeinsam gegangen. Es handelte sich in der Tat um die Bäuerin und ihre Tochter, und beide wussten, dass Philip und Xelia sich für die Nacht im Heuschober einquartiert hatten. Sie nahmen an, dass ihre Gäste aus der nahe liegenden Stadt kamen, und luden sie wie selbstverständlich zum gemeinsamen Abendmahl ein.
Philip frohlockte innerlich. Besser hätte er das nicht einfädeln können.
Kaum saÃen sie zusammen am Tisch â Xelia hatte den Welpen auf dem Schoàâ, lenkte Philip vorsichtig das Gespräch auf das Spital. Es war so
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