Die Lieferung - Roman
versuchte, Allans Blick auszuweichen. Sie wusste, was er jetzt sagen würde, sagen musste.
»Du solltest ihn in ein Krankenhaus bringen. Ich glaube nicht, dass er in Lebensgefahr schwebt, aber …«
Allan breitete die Arme aus und zeigte auf seine Medizinbüchersammlung.
»Es kursieren etwa eine Milliarde Stoffe auf dem Markt, die man ihm eingeflößt haben könnte. Ich kann dir nicht sagen, was ihm fehlt. Das Beste wird sein, du bringst ihn nach Hvidovre.«
Nina antwortete nicht.
Zum ersten Mal nahm sie sich die Zeit, den Jungen genauer anzusehen. Anfänglich hatte sie sein Alter auf knapp drei Jahre geschätzt, doch jetzt, da sie sein Gesicht betrachtete, kamen ihr Zweifel. Eher vier, dachte sie und streckte die Hand aus, um mit den Fingerkuppen den weichen Linien seines Gesichtes zu folgen. Vielleicht war er einfach nur klein für sein Alter. Sein Haar war kurz geschnitten und fast weiß, seine Haut schimmerte bläulich und durchscheinend wie Pergament im Licht eines Fensters.
»Ich weiß nicht, woher er kommt«, sagte sie. »Aus Dänemark jedenfalls nicht, glaube ich. Aber es sucht jemand nach ihm. Jemand, der irgendetwas mit ihm vorhat.«
Allan zog die Augenbrauen hoch.
»Pädophilie?«
Nina zog die Schultern hoch und rief sich den Mann bei den Gepäckfächern ins Gedächtnis. Wie hatte er eigentlich ausgesehen? Riesig, um die 30. Und dann die viel zu warme braune Lederjacke. Als sie sich vorstellte, was für eine Personenbeschreibung die Polizei rausschicken würde, wurde ihr klar, dass diese Beschreibung auf Tausende von großen Männern passte. Und dann sah sie den Jungen in einem Krankenzimmer, während ein Sozialarbeiter im Pausenraum saß und ein endloses Formular nach dem anderen ausfüllte. Würden sie den Jungen vor der geballten Wut dieses Mannes beschützen können? Und was konnten die dänischen Behörden für ihn tun? Was würde geschehen, wenn niemand herausfand,
woher er kam? Ob er aus einer Einrichtung auf Amager oder irgendeinem Asylantenheim stammte? Es schüttelte Nina. Natashas Scheißkerl war einfach ins Kulhuslager marschiert und hatte Rina aus der Schule geholt, ohne dass irgendwer es überhaupt bemerkt hatte. Viel zu viele der aufgegriffenen Kinder verschwanden nach ein paar Tagen wieder aus den Lagern, wurden von ihren »Besitzern« abgeholt.
»Er kommt auf keinen Fall in eins der Lager«, sagte sie kurz angebunden und sah sich im Sprechzimmer um. »Auch nicht nach Gribskov. Da verschwinden laufend Kinder. Dahin kommt er nicht.«
Endlich entdeckte sie, wonach sie gesucht hatte. Hinter den matten Scheiben des Glasschrankes neben der Tür bewahrte Allan sein persönliches Notlager auf, unter anderem ein paar Beutel mit Infusionsflüssigkeit mit dazugehörigem Tropf. Er hatte diese Sachen seit dem letzten Jahr in seinem Sprechzimmer deponiert, nachdem sie zusammen einen älteren Mann behandelt hatten, der das Sandholmlager verlassen hatte, um zu Verwandten in der Stadt zu ziehen, weil er in ein Flüchtlingslager in der Nähe von Beirut zurückgeschickt werden sollte. Stattdessen hatte er dann aber auf einer alten Matratze unter dem Dach eines älteren Gebäudes in Nørrebro vor sich hin vegetiert, wo es mindestens 45 Grad heiß gewesen war. Obwohl er eigentlich nur unter der sommerlichen Hitze gelitten hatte, war ihnen der Alte beinahe unter den Händen weggestorben, weil sie nicht die richtige Ausrüstung dabeigehabt hatten. Unmittelbar nach diesem Einsatz hatte Allan ein paar Infusionssets besorgt, die bisher aber nicht zur Anwendung gekommen waren. Er wollte ja auch aus dem Netzwerk aussteigen. Schon seit längerem, aber die potenziellen Nachfolger rannten ihnen nicht gerade die Tür ein. So hatte Nina für alle Fälle noch immer seine Handynummer gespeichert. Sicherheitshalber, dachte sie mit einem nüchternen, stillen Lächeln.
Für den Fall, dass sie mal über einen dreijährigen Jungen in einem Koffer stolperte.
Sie nahm das Infusionsset und die IV-Flüssigkeit aus dem Schrank und merkte, dass eine tiefe Ruhe über sie kam, als sie die vertraute Ausrüstung in der Hand hielt. Was jetzt kam, hatte sie schon tausendmal gemacht. Die Verpackung mit einem Ruck aufreißen, die Nadel herausziehen, den Schlauch aufrollen. Sie sah sich nach einem leicht erhöhten Platz um, auf den sie den Infusionsbeutel legen konnte, und entschied sich für das kleine Regal mit den Spielsachen, das an der Wand über der Pritsche angebracht war. Dann nahm sie den schlaffen Arm des Jungen, durch
Weitere Kostenlose Bücher