Die Lieferung - Roman
strömte. Sie schnappte sich Handy und Schlüssel vom Beifahrersitz und stieg aus. Nach einem weiteren Blick auf die Einfahrt beschloss sie, den Jungen mitzunehmen. Er war wach. Zwar wusste er nicht, wer sie war, aber es war sicher besser, ihn mitzunehmen, als ihn alleine im dunklen, abgeschlossenen Auto in der Ungewissheit sitzen zu lassen.
Der Junge hatte keinen Muskel bewegt, seit sie ausgestiegen war, aber als sie die hintere Tür öffnete, rutschte er hektisch von ihr weg, so dass die Decke auf den Boden glitt.
Nina zögerte.
Sie wollte ihm keine Angst machen, stellte aber bestürzt fest, dass er sie verängstigt anstarrte, als wäre sie genauso ein Monster
wie der Mann am Bahnhof. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun musste, um das Vertrauen des Jungen zu gewinnen.
»Was haben sie nur mit dir gemacht«, flüsterte sie, als sie in die Hocke ging und den Blick des Jungen einzufangen versuchte. »Wo kommst du her, mein Kleiner?«
Der Junge antwortete nicht und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Auf dem Polster war ein dunkler Fleck, und der Junge roch streng nach Schweiß und Urin, was bei Nina dasselbe fürsorgliche Gefühl auslöste, wie wenn Anton oder Ida Fieber hatten oder sich übergeben mussten. In diesen Momenten holte sie immer Saft, zerstoßenes Eis und kalte Lappen, die sie ihnen auf die Stirn legte. Das Bedürfnis, ihnen etwas Gutes zu tun, war dann so überwältigend, dass in ihrem Kopf kein Platz mehr für irgendetwas anderes war. Waren die Kinder krank, fiel es ihr leicht, eine gute Mutter zu sein, dachte sie. Alles andere war so kompliziert.
Sie streckte vorsichtig den Arm aus und strich dem Jungen über die feuchte Stirn. Mit der anderen Hand zeigte sie zum Haus und legte sie schließlich an die Wange.
»Gleich kriegst du was zu essen«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Und dann darfst du schlafen. Danach werden wir sehen, wie’s weitergeht.«
Der Junge antwortete nicht, aber offenbar hatte sie instinktiv das Richtige getan, da er sich etwas entspannte und ein paar Zentimeter in ihre Richtung rutschte.
»Das hast du toll gemacht«, sagte sie und musste an einen Artikel über den Überlebenswillen von Kindern denken, den sie vor etlichen Jahren gelesen hatte. Selbst unter den brutalsten Bedingungen verhielten sie sich wie kleine, wärmegelenkte Missiles, hatte dort gestanden. Verlor ein Kind seine Mutter, richtete es sich an seinem Vater aus, und verschwand auch der Vater, wandte das Kind sich an den nächsten Erwachsenen und so weiter, immer auf der Jagd nach einem erwachsenen
Menschen, der sein Überleben sicherte und von dem es vielleicht sogar etwas Liebe bekam. In diesem Moment war sie die einzige Erwachsene in Reichweite.
Er half mit, als sie ihm das neue T-Shirt und die Unterhose anzog. Der Rest musste warten. Aber selbst mit diesen wenigen Sachen sah er schon fast wie ein normaler Dreijähriger aus. Sie fasste ihm unter die Arme und hob ihn hoch. Erneut wunderte sie sich über die Leichtigkeit im Vergleich mit Anton. Erstaunlich, dass ein paar Kilos so einen großen Unterschied machen, dachte sie. Jetzt, wo der Junge wach war, wollte er nicht mehr von ihr über die Schulter gelegt werden. Er saß aufrecht und stumm auf ihrer linken Hüfte, als sie den kurzen Kiesweg an der Veranda vorbeiging.
»Mein Kleiner«, murmelte Nina mit sanfter Stimme. »Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben.«
Der warme Atem des Jungen ging schnell und roch sauer nach Erbrochenem und Angst.
Auf der Veranda hatte jemand ordentlich eine Reihe großer Blumentöpfe mit Kräutern und Stiefmütterchen aufgestellt, die in frischen, saftig grünen Nuancen leuchteten. Neben der Verandatür standen ein Paar grellgelbe Gummistiefel und ein offener Transportkäfig für Katzen oder kleine Hunde. Nina erinnerte sich, dass Karin damals beim Weihnachtsbrunch etwas von einer Katze erzählt hatte. Mr. Miss hatte sie ihn genannt. Es war ein Kater, den sie sich zugelegt hatte, nachdem sie ein für alle Mal beschlossen hatte, sich nicht länger mit der Suche nach Mann und Kindern und dem ganzen Mist verrückt zu machen.
In diesem Moment waren weder der Kater noch Karin zu sehen.
Nina hob die freie Hand, um an die Glasscheibe zu klopfen, und stellte erstaunt fest, dass die Tür beim ersten Klopfen nachgab und aufglitt. Sie war nicht richtig zu gewesen. Nina
trat in den kleinen, dämmrigen Eingangsflur, in dem es leicht nach Zitrone und Essig roch. Karins Stiefel und Schuhe standen wie dunkle Silhouetten
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