Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
kleine Küche war leer, auch das Wohnzimmer gleich daneben. Der Maresciallo schaute durchs Fenster in den Garten hinaus, entdeckte endlich die alte Frau auf einer Bank. Behutsam trat er zu ihr hinaus, hielt seine Mütze fest, denn heftiger, kalter Wind kam übers Meer, zu kalt für Anfang April.
«Sie werden sich erkälten, Signora», sagte er sanft.
Maria Valeria Cabun antwortete nicht, sah ihn auch nicht an. Sie schaute aufs Meer, das bereits die Farbe der Nacht angenommen hatte. Breite grauschwarze Wogen eilten der Küste zu, glichen den Rücken großer Tiere auf Wanderschaft. Der Wind hatte einzelne Haarsträhnen der alten Frau aus dem Knoten gelöst, den sie sonst im Nacken trug. Sie wehten um ihren Kopf, und Maresciallo Sarbia dachte, dass sie einmal eine schöne Frau gewesen sein musste. Ja, dass sie auch in diesem Augenblick noch schön war.
«Warum gehen sie fort?», sagte sie plötzlich, schien aber nicht Sarbia zu fragen, sondern das Meer oder den Himmel, vielleicht auch den Wind. Doch als der Maresciallo nicht antwortete, wandte sie den Kopf und sah ihn fest an. «Warum gehen sie fort? Sagen Sie es mir, Maresciallo!»
«Ich weiß es nicht», murmelte er.
«Warum ist Valeria fortgegangen? Was ist so schlecht hier, dass die Jungen fortmüssen? Keiner von uns ist jemals fortgegangen. Nur wenn wir mussten, sonst nie!»
«Ich weiß es wirklich nicht, Signora.»
«Sie war eine echte Cabun. Sie passte nur hierher. Ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat. Es gibt für eine Cabun keinen Grund, sich umzubringen.»
Der Maresciallo trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. Er kannte viele Gründe für den Selbstmord junger Menschen, und auch Valeria Cabun war schließlich ein junges Mädchen gewesen – Cabun oder nicht! Das sagte er aber nicht.
Über Nacht waren die Frühlingsdüfte intensiver geworden, Ahornbäume sahen aus wie hellgrüne Blütensträuße, und Amseln lieferten sich wilde Gesangsduelle auf Ästen und Dachrinnen. Laura Gottberg hatte die Stelle zwischen ihren Schulterblättern halbwegs im Griff, war sogar mit ihrem eigenen Wagen nach Schwabing gefahren. Mit mühseliger Parkplatzsuche in den engen Straßen hatte sie sich allerdings nicht aufgehalten, sondern den alten Mercedes halb auf den Bürgersteig gestellt.
Das Sprachinstitut Bellingua war in einem alten Jugendstilhaus untergebracht, dessen Eingangsportal auf den Schultern von zwei steinernen Frauen ruhte. Sie hielten die schönen Köpfe leicht gesenkt, ihre Mienen verrieten nichts von der Last, die sie seit über hundert Jahren trugen. Mosaike in Blau und Gold fassten die Fenster ein, Frauengesichter, umrahmt von lang fließenden Haaren, bildeten einen breiten Sims knapp unterm Dach, und Laura empfand diese Wiederholung von Bildern als seltsam. Jedes der Gesichter erinnerte sie an Valeria Cabun.
Laura betrachtete die große Informationstafel, die das Sprachinstitut anpries. «Bellingua – Das Sprachinstitut nur für Frauen!» stand da in großen verschlungenen Jugendstil-Lettern, und auch hier gab es Frauenköpfe mit langen Haaren.
Seltsam, dachte Laura. Noch nie hatte sie von einer Sprachenschule nur für Frauen gehört. Langsam stieg sie die breiten Marmorstufen zum Eingang hinauf, fand die schwere, mit Ornamenten verzierte Tür offen, ging über einen mittelblauen Läufer durch eine Eingangshalle voller Wandsäulen, die Pflanzen ähnelten. Am Lift fand sie ein neues Schild und las wieder: «Bellingua – Das Sprachinstitut nur für Frauen 2. und 3. Stock. Anmeldung 2. Stock.»
Während Laura auf den Lift wartete, strömten junge und ältere Frauen durch die Eingangshalle. Einige nahmen die Treppe, andere gesellten sich zu Laura. Eine Art babylonischer Sprachverwirrung füllte das Treppenhaus, fröhliches Geplapper, von dem Laura nur Fetzen verstehen konnte – hier ein bisschen Italienisch, dort ein wenig Englisch, vielleicht konnte manches Französisch sein, aber bei den afrikanischen Sprachen musste sie passen, und sie konnte nicht einmal unterscheiden, ob die drei schrägäugigen Mädchen rechts von ihr Chinesisch, Japanisch oder Koreanisch sprachen.
Es wurde sehr eng im Lift, obwohl höchstens die Hälfte der Sprachschülerinnen in der Kabine Platz gefunden hatte. Keine von ihnen beachtete Laura, die als Letzte den Lift wieder verließ, den Frauen und Mädchen langsam durch eine weiß lackierte, mit Engeln verzierte Tür folgte. Die Räume dahinter waren von erlesener Großzügigkeit – Parkettböden,
Weitere Kostenlose Bücher