Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
es innerlich und äußerlich angewendet. Ich habe es heute abgewaschen, aber das Bein sieht übel aus, und das Erbrechen geht immer weiter. Der Medicus hat ihn schon zweimal zur Ader gelassen, aber es ist nicht besser geworden.«
»Was seid Ihr auch so dumm, einen solchen Medicus zu rufen«, sagte Moses verächtlich.
»Dem kann ich nichts hinzufügen«, meinte Sanchia.
»Nicht ich habe den Medicus gerufen, sondern die Familie. Es heißt, er sei ein großer Arzt, aber ich habe meine Zweifel.«
Sanchia ging weiter. »Seine Familie legt bestimmt keinen Wert darauf, dass ein einfaches Mädchen die Stelle eines berühmten Arztes einnimmt.«
» Ich lege Wert darauf. Weil er mir etwas bedeutet.«
»Was Ihr nicht sagt«, versetzte Sanchia. Sie konnte nicht verhindern, dass ein verächtlicher Ton in ihre Stimme trat. Damals im Besucherzimmer des Klosters hatte er im Namen seines jungen Herrn viele gestelzte Worte von sich gegeben, und sie hatte kein einziges davon vergessen. Auch nicht Eleonoras schreckensbleiches Gesicht und den Ausdruck in ihren Augen. Und ebenso wenig das ziehende, wehe Gefühl, das ihr die eigene Brust zusammengeschnürt hatte. Annunziata, die mit undurchdringlicher Miene im Hintergrund gewartet hatte, war anschließend auf sie zugetreten. »Vergesst ihn, Kinder. Er ist es nicht wert.«
Rufio bewegte sich katzengleich an ihrer Seite. »Wenn er stirbt – würdet Ihr dann um ihn weinen?«
»Ganz sicher nicht.«
»Für Euer jugendliches Alter habt Ihr eine ganz erstaunliche Weitsicht und Geistesgegenwärtigkeit bewiesen. Ihr habt ihn gerettet. Das bewirkt eine besondere Bindung. Sein Leben lag in Eurer Hand, und Ihr habt es ihm zurückgegeben. Ihr habt Verantwortung übernommen, und diese Verantwortung ruht immer noch auf Euch.«
Sanchia wunderte sich über seine gewählte Ausdrucksweise. Er konnte nicht aus Venedig stammen. Um das zu erkennen, musste man gar nicht erst den schwachen, fremdländischen Akzent hören, der seinen Worten anhaftete. Dennoch sprach er fast wie ein Gelehrter.
»Das ist nicht wahr. Seine Rettung habt in erster Linie Ihr herbeigeführt. Ich trage keine Verantwortung für ihn. Ich kenne ihn ja gar nicht.«
»Ihr kennt viele seiner Briefe. Und seine beiden weißen Tauben. Ihr liebt sie, diese Tauben, nicht wahr? Sie fliegen immer noch zu Euch, in ihren Schlag. Und dann wieder zu ihm. Immer hin und her. Auch wenn sie schon viele Jahre keine Briefe mehr bringen. Hofft Ihr immer noch auf einen Brief? Vielleicht einen, in dem er Euch um Verzeihung bittet?«
Sanchia ballte ihre Hände zu Fäusten und gab keine Antwort.
»Welchen Lohn würdet Ihr für angemessen halten?«
»Sanchia erhält keinen Lohn«, sagte Moses in argloser Offenheit, während Sanchia gleichzeitig patzig erklärte: »So viel könnt Ihr gar nicht bezahlen!«
Rufio lachte. »Na so was. Mir scheint, hier haben wir einigen Verhandlungsspielraum.«
»Lasst mich in Ruhe. Ich habe zu arbeiten.«
»Die Kranken im Spital sind einstweilen in guter Behandlung. Kommt mit mir, und Ihr werdet es nicht bereuen.«
»Wenn Ihr mich nicht in Ruhe lasst, rufe ich um Hilfe.«
»Ich helfe Euch!«, rief Moses eilfertig. »Lasst mich diesem Mohren zeigen, wie ein richtiger Mann mit dem Dolch umgeht!« Mit beiden Händen fuhr er unter sein Wams und nestelte an der Messerscheide herum.
»Eine Zeichnung von da Vinci«, sagte Rufio. »Der Entwurf eines Gemäldes, von dem ich weiß, dass er es inzwischen gemalt hat.«
Sanchia verharrte mitten im Schritt. »Lass das Messer stecken«, befahl sie Moses.
Rufio lächelte gewinnend. »Und die anatomische Skizze eines Schädels im Querschnitt sowie eines Kindes im Mutterleib.«
Sie ahnte, dass er das unziemliche Verlangen nach den genannten Belohnungen an ihrem Gesicht ablesen konnte. Er hatte gewonnen. Doch er machte sich weder über sie lustig noch gab er auf andere Weise seinen Triumph zu erkennen.
Er wirkte einfach nur erleichtert. »Folgt mir, Madonna.«
Rufio hatte die Gondel in der Nähe vertäut. Die Kanäle waren wieder befahrbar, auch wenn hier und da noch vereinzelte brüchige Eisschollen auf dem Wasser trieben. Sanchia setzte sich auf die Bank in der Mitte des Gefährts, und Moses kauerte sich zu ihren Füßen auf den Boden. Rufio stand am hinteren Ende der Gondel, die Füße in den pelzverbrämten Stiefeln geschickt gegen die hölzerne Querverstrebung gestemmt. Er lenkte das Boot mit der langen Ruderstange, die er mit der Rechten in Höhe seiner Hüfte und mit der
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