Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
doch Eleonora kannte genug Frauen, die jedes Jahr ein Kind bekamen und all ihre Sprösslinge der Reihe nach stillten. Die jeweils im Alter vorangehenden Kinder mussten dann eben ohne Muttermilch auskommen, und trotzdem gediehen sie prächtig, vorausgesetzt, man gab ihnen genug zu essen.
»Da«, sagte Agostino gierig. Er zeigte auf Cornelias entblößte Brust. »Da!«
»Das brauchst du jetzt nicht mehr, mein Junge.« Eleonora hob ihn aus dem Gitterbettchen und nahm ihn auf den Arm. »Du bist groß genug, um wie ein richtiger Mann zu essen.«
»Daaa!«, wimmerte der Kleine mit ausgestrecktem Zeigefinger. Er hopste in ihren Armen auf und ab, um seinem Wort Nachdruck zu verleihen.
»Nicht doch. Na schön, vielleicht nicht ganz wie ein richtiger Mann. Du hast ja noch keine Backenzähne zum Kauen. Ich werde dir alles hübsch zerkleinern, so wie wir es jetzt auch schon machen. Du kriegst einfach ein bisschen mehr davon. Ich könnte es dir auch vorkauen, dann wäre es fast so wie beim Stillen.«
»Da!«, brüllte Agostino mit überkippender Stimme. Er neigte sich in ihren Armen gefährlich weit nach vorn, um an die begehrte Nahrungsquelle zu kommen.
Cornelia schreckte hoch und setzte sich auf. Mit halb geschlossenen Augen streckte sie mechanisch die Hände aus, eine stumme Aufforderung, ihr den Kleinen zu reichen.
Eleonora presste ihn an sich und trat instinktiv einen Schritt zurück. Er würde sich daran gewöhnen müssen, Verzicht zu üben, auch wenn es nicht einfach war.
»Will! Will! Will! Da !« Damit hatte Agostino gleich zwei der fünf Wörter herausgeschrien, die sein kleiner Wortschatz umfasste. Die anderen lauteten Mama, Papa und Sa . Sa stand für Sanchia, die darauf mit einem Entzücken reagiert hatte, das in keinem Verhältnis zur Ursache stand. Am weitaus häufigsten kam jedoch das Wort Da zur Anwendung, und zwar leider fast immer im Zusammenhang mit Cornelias unförmiger, triefender Brust.
Agostino hatte es aufgegeben, sein Verlangen in Worte zu kleiden. Stattdessen artikulierte er sich auf weit effektivere Art: Er kreischte, als würde er über offenem Feuer am Spieß geröstet.
Eleonora warf ihn förmlich in die Arme der Amme und floh aus dem Zimmer. In der danebenliegenden Schlafkammer blieb sie zitternd stehen, die Hände zu Fäusten geballt. Sie gab sich Mühe, nicht daran zu denken, was sich jetzt im Nebenraum abspielte. Wie Cornelia ihn in ihre zerfließende Körperwärme zog, wie er nach der daumenlangen Brustwarze der Amme schnappte. Wie er sich festsaugte und selbstvergessen die Augen schloss, genüsslich nuckelnd, die kleinen Hände festgekrallt in dem weichen, quarkähnlichen Fleisch.
Zähneknirschend betrachtete Eleonora ihr hochrotes Gesicht in dem Spiegel, der hinter der Tür befestigt war. Es war ihr alter Spiegel aus dem Kloster, den Pasquale ihr gemacht hatte. Sie hatte ihn zusammen mit ihren anderen Sachen hergeholt.
O Gott, Pasquale! Sie presste die Hände gegen die glühenden Wangen und wandte sich auf der Stelle von dem Spiegel ab, außerstande, sich selbst in die Augen zu schauen. Stattdessen fiel sie vor dem Madonnenstandbild neben ihrem Bett auf die Knie und betete lange für ihre arme, rabenschwarze Seele. Ihre Beine waren völlig taub, als sie sich schließlich hochrappelte und nach nebenan taumelte. Sie stieß einen Schrei aus, als sie sah, dass Cornelia wieder eingeschlafen war. Auf dem Bett. Agostino hing an ihrer Brust und saugte, als gelte es sein Leben. Als er seiner Mutter ansichtig wurde, hörte er auf damit und grinste sie mit nassem Mündchen an. »Mama«, sagte er glücklich.
Sie grollte ihm immer noch, aber wenn er auf diese Art lächelte, schmolz ihr Herz wie ein Klumpen Butter in der Sonne. Halb krabbelte er ihr entgegen, halb zog sie ihn aus der Umarmung der Amme.
»Ah, wie ich dich liebe, mein Zuckerengel, mein frecher kleiner Teufel, mein göttlicher Cherub! Du machst es ja nicht mit böser Absicht! Es ist ganz einfach eine Art Trieb.« Über Triebe hatte sie in der letzten Zeit einiges dazugelernt, doch sie weigerte sich, jetzt daran zu denken. Stattdessen widmete sie sich ihrem Sohn. Er ging in allen Dingen vor, und zwar immer. Sie küsste ihn aus Leibeskräften ab, und er ließ es sich ohne Gegenwehr gefallen. »Was ist?«, fragte sie, als sein Gesichtchen mit einem Mal rot anlief, wie bei einer großen Anstrengung. Sie schnüffelte kurz an ihm und rümpfte die Nase. »Musst du das machen, während ich dich im Arm halte? Kannst du das nicht bei ihr
Weitere Kostenlose Bücher