Die Mächte des Feuers
»Vergessen Sie nicht: Egal, was Sie hören, Großmeisterin, die Drachen werden ihr Wort nicht halten. Sie mögen uns tatsächlich in der Schlacht gegen Gorynytsch unterstützen, aber was wird geschehen, wenn wir siegen? Sie werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, auch den Rest des Officiums zu vernichten.«
»Deswegen zähle ich auf dich, Cyrano. Und deine Gargoyles.« Silena beugte sich über die Karte, und die anderen im Raum Versammelten taten es ihr gleich.
9. März 1925, Kiew, Zarenreich Russland
Silena und Grigorij standen auf der breiten Straße und suchten die Umgebung ab, soweit es das Licht der Nachtgestirne zuließ. Sie hatten absichtlich darauf verzichtet, eine Lampe anzuschalten, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf dem Triglav zu wecken.
Nicht weit von ihnen entfernt, etwa zwanzig Meter hinter ihnen, lagen die Gargoyles auf dem Boden verborgen und wachten über sie. Dennoch fühlte sich Silena nicht wohl, auch wenn sie nicht an eine Falle glaubte. Es war die Unterredung mit dem Wurmdrachen in Innsbruck, die sie sicher machte, es mit einem echten Unterstützungsangebot zu tun zu haben.
»Aber warum wollen sie mit dir sprechen?«, führte Grigorij ihre Gedanken fort, als wären es seine eigenen gewesen.
Silena wandte sich zu ihm um. »Weißt du, dass du mir manchmal unheimlich bist?«
Er machte ein unschuldiges Gesicht. »Was habe ich denn getan?«
»Du hast mehr als einmal meine Gedanken erraten. Das kann kein Zufall sein.«
»Ich bin ein Hellseher. So etwas erwartet man doch von mir, nicht wahr?« Er lächelte entschuldigend. »Was wäre ich wohl für ein Vertreter meiner Profession, wenn ich das nicht könnte?«
»Für meinen Geschmack geschieht in den letzten Wochen zu viel in dieser Hinsicht. Hellseherei, die wirklich funktioniert, und Magie, die es zu geben scheint.« Sie trat nach einem Steinchen. »Drachen, die im Hintergrund lauern und behaupten, dass sie unsere Geschicke bestimmen. Alles, was mir vertraut war, hat sich seit Anfang des Jahres gewandelt.«
»Verstehe es als eine Herausforderung.«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?« Silena blickte ihm ergründend ins Gesicht. »Was war das mit der Wette zwischen dir und Sàtra?«
Er lachte auf. »Das beschäftigt dich aber ziemlich.«
»Ich hatte den Eindruck, dass es dabei um mich ging. Neugier ist eine der Eigenschaften einer Drachentöterin.«
»Und ich dachte immer, dass es die Neugier ist, die Menschen umbringt.«
»Nein. Das waren die Gargoyles und die Drachen«, gab sie leise zurück und wandte den Kopf zum Himmel. Sie hatte ein Rauschen vernommen, als setze ein großes Wesen mit Schwingen zum Landen an. Gleich darauf traf sie ein kräftiger Wind, wirbelte Dreck auf und wehte ihnen durch die Haare. Dann senkte sich ein Schatten aus dem Himmel.
Die Umrisse eines gewaltigen Drachen wurden sichtbar, der die Ausmaße von Gorynytsch noch übertraf. Die Farbe konnte Silena nicht einordnen, im silbrigen Sternenschein sahen die Schuppen schwarz aus, doch ein zweiter Ton schimmerte durch. War es rot?
Silena starrte den vierbeinigen Teufel an, der die gezackten Schwingen zusammenfaltete und an den Schuppenleib legte. Wie die meisten Vertreter der Flugspezies hatte er einen schlanken Kopf, und ein Paar glutrote Augen schauten aus acht Metern Höhe auf sie herab. Die lange Schnauze war leicht geöffnet, matt schimmerten die Zähne auf. Eine eindeutige Drohung.
Ich bin Y Ddraig Goch, hörten beide eine weibliche Stimme in ihrem Verstand sagen. Die Mächte des Feuers bieten euch Unterstü t zung, nicht den Frieden an. Ohne uns werdet ihr unterliegen.
»Und ohne uns werdet ihr ausgerottet«, sagte Silena. »Wir wissen, dass Gorynytsch plant, einen Krieg anzuzetteln, der den Osten gegen den Westen führt und die Gargoyles von ihrem Bann befreit.« Sie zeigte auf ihn. »Deine Tage und die aller anderen Teufel wären gezählt.«
Ddraig lachte. Denkst du, wir wären so schwach?
»Da du hier bist, um uns einen Beistandspakt anzubieten, denke ich das sehr wohl. Sonst würden du und deine Freunde einfach über Kiew eure Bahnen ziehen und zuerst Gorynytsch und danach uns vernichten. Beides ist bislang nicht geschehen, und ich frage mich, warum.« Silena dachte nicht daran, untertänig oder in irgendeiner Weise diplomatisch zu klingen. Sie verhandelte mit einer Kreatur, die sie eigentlich angreifen und vernichten müsste.
Ich habe Iffnar schon immer gesagt, dass er die Menschen unte r schätzt. Ddraig klang amüsiert. Du
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