Die Mädchen (German Edition)
genauer darüber nachdachte und noch trauriger, dass es
tatsächlich funktionierte. Wenn er sie in seiner Lederjacke, eine der coolsten,
die sie jemals gesehen hatte, mit seinem Motorrad von der Schule abholte,
wusste sie, dass allen die Münder offen stehen blieben. Keine andere ihrer
Freundinnen hatte etwas Ähnliches aufgefahren. Auch wenn sie ihr gegenüber so
taten, als wäre Bent unter ihrem Niveau, wusste sie genau, dass jede von ihnen
ohne zu zögern auf der Stelle mit ihr getauscht hätte.
Leider war das Image viel besser
als die Realität. Ihr war schon nach kurzer Zeit klar geworden, dass sie
relativ wenige Gemeinsamkeiten hatten. Bier, Fußball, sein Motorrad und den
einen oder anderen Joint, das war so ziemlich alles, was ihn interessierte. Es
war klar, dass er sie nicht hatte, um sich mit ihr zu unterhalten, sie war
schmückendes Beiwerk, jemand, mit dem man vor den Kumpels angeben konnte, aber
keine gleichberechtigte Freundin. Und seine Freunde? Mit denen wollte sie nicht
mal annähernd auch nur gesehen werden. Vor allem dieser Pickelige, dieser Pinky,
wie sie ihn alle riefen, der ging gar nicht. Wie ein Hund lief er Bent hinterher
und himmelte ihn an, als ob dieser so was wie ein Gott war. Sie war sicher,
dass er irgendwie Geld hatte, was Bent für sich ausnutzte, ansonsten hätte er
ihn nicht mal in seine Nähe gelassen.
Vielleicht war es auch die
Tatsache, dass er eben ein Auto besaß, während Bent nur sein blödes Motorrad
hatte. Nichts gegen das Motorrad an sich, es machte ja auch wirklich Spaß, wenn
er mit ihr Touren unternahm. Aber so cool das an sich auch wirkte, zu dieser
Jahreszeit war es ja wohl mehr als bescheuert. Meldete nicht jeder normale
Mensch sein Motorrad für die Wintermonate ab? Bent tat das jedenfalls nicht.
Wie sollte er auch sonst von A nach B kommen, wenn Pinky ihn nicht chauffieren
konnte? Er hatte ja nicht einmal ein Fahrrad und auf die Idee, mit dem Bus zu
fahren, war er noch nicht gekommen. Also fuhr er mit dem Motorrad, solange es
kein Glatteis gab und sie konnte sich hinter ihm den Arsch abfrieren, wenn sie
sich nicht dick genug eingepackt hatte.
Alles in allem war die Beziehung
von Anfang an zum Scheitern verurteilt und sie hätte die Sache wahrscheinlich
schon längst beendet, wenn sie damit nicht genau das getan hätte, was ihre Eltern
wollten. Die beiden waren sich selten einig, seit sie geschieden waren, aber Bent
war für sie ein rotes Tuch. Ständig lagen sie ihr damit in den Ohren, wie
schrecklich sie ihn fanden, wie schlecht er für sie war und so weiter.
Es war seltsam, aber seitdem sie
mit ihm zusammen war, hatten ihre Eltern plötzlich wieder Interesse an ihr. Und
es gefiel ihr, dass sie einen wunden Punkt gefunden hatte. Endlich nahmen ihre
Eltern sie wieder wahr, zeigten, dass sie ihnen nicht gleichgültig war. Diesen
Eindruck hatte man in den letzten fünf Jahren nämlich bekommen können, so sehr
waren sie damit beschäftigt gewesen, sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu
machen. Warum konnte eigentlich eine Scheidung nicht zivilisiert über die Bühne
gehen? Musste man immer mit Anwälten aufeinander losgehen und sich
zerfleischen? Ihre Eltern jedenfalls waren schlimmer gewesen als alles, was sie
im Fernsehen gesehen oder von ihren Mitschülern gehört hatte.
Alles hatte angefangen, als ihr
Vater eines Abends nicht von der Arbeit nach Hause kam. Na ja, eigentlich hatte
es schon früher angefangen, aber an dem Abend hatte Judith gemerkt, dass die
Ehe ihrer Eltern gescheitert war. Ihr Vater war Zahnarzt und immer eher zu
Hause als ihre Mutter, die damals in Hamburg in einer großen Reederei die
Marketingabteilung leitete. Es kam nicht selten vor, dass sie ohne ihre Mutter
zu Abend aßen und ihr Vater ihre kleine Schwester Sina ins Bett gebracht hatte,
bevor ihre Mutter zu Hause war. Judith hatte gewusst, dass ihrem Vater das
alles nicht gefiel, weil sie nicht nur einmal gehört hatte, wie er seine Frau
bat, mit Rücksicht auf die Kinder etwas kürzer zu treten, aber sie war nicht
dazu bereit gewesen. Es gab also Probleme, aber sie hätte nicht im Traum damit
gerechnet, dass ihr Vater irgendwann die Konsequenzen ziehen würde. Genau das
hatte er jedoch getan, und als ihre Mutter an jenem Abend dann irgendwann gegen
neun die Haustür aufschloss, war klar, dass eine Trennung bevorstand.
Mittlerweile wusste sie, dass ihr
Vater ihrer Mutter ein Ultimatum gestellt hatte, das diese dreimal hatte
verstreichen lassen. Ihre Mutter war natürlich der
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