Die Magd und das Teufelskind: Historischer Roman (German Edition)
verriegelt zu haben. Nachdem er sechs Jahre nichts von sich hatte hören lassen, stand sein Bruder da, als wäre er am Morgen erst aus dem Haus gegangen.
Der Vater starrte ihn mit aufgeklapptem Mund an. Ein Speichelfaden hing von seiner Lippe. Entweder würde er gleich auf seinen Sohn losgehen und ihm die Filzschuhe über den Schädel ziehen, oder er würde in Tränen ausbrechen. Iven rechnete mit den Tränen. Und er behielt recht. Sein Vater legte den Kopf auf die Tischplatte und weinte wie ein kleines Kind.
Hans Jorgen warf den Umhang in die Ecke neben der Tür und schritt auf seine Mutter zu. »Du bist schöner als je zuvor. Wie schaffst du es nur, der Natur so zu trotzen? Du solltest doch eigentlich eine alte Frau sein.« Der Bruder kniete sich vor sie hin und küsste ihre Hand.
Iven bemühte sich verzweifelt um Gelassenheit, denn er stand kurz davor, Hans Jorgen am Kragen zu packen und aus dem Haus zu werfen. Mehr Runzeln als Mutter konnte keine Frau haben. Ihr Rücken hatte sich zu einem Buckel gekrümmt, und sie vermochte nicht mehr aufrecht zu gehen. Welch schamlose Märchen tischte Hans Jorgen ihr da auf?
Doch die Mutter schien sich über die Worte des Bruders sehr zu freuen. Ihre Augen glänzten, und sie konnte den Blick nicht von ihrem Ältesten abwenden.
Iven kniff die Lider zu einem Schlitz zusammen und nahm seinen Bruder genauer in Augenschein. Im Licht der Kerzen schimmerte sein Haar blauschwarz. Angewidert verzog Iven den Mund. Hans Jorgen hatte sein ehemals rotes Haar gefärbt, als wäre er ein Weib. Auf seiner Stirn kringelten sich geölte Locken wie einst bei den römischen Herrschern vor über 1500 Jahren.
Der Vater weinte noch immer in seine Armbeuge.
Musste das nun wirklich sein? Es hätte ein geruhsamer Abend werden können, wenn nicht dieser Tunichtgut aufgetaucht wäre. Mutters glänzende Augen versetzten Iven einen Stich ins Herz. Obwohl Hans Jorgen zwölf Jahre älter war als er, hatte er nie Verantwortung übernommen. Bereits als junger Bursche im Alter von siebzehn Jahren war er in die Lande hinausgezogen und hatte es vorgezogen, die Menschen mit seinem schiefen Gesang zu erschüttern. Um die Eltern hatte er sich nicht gekümmert. Seither ließ er sich nun zum dritten Mal zu Hause sehen. Er kam in regelmäßigen Abständen von sechs Jahren. Und jedes Mal freute die Mutter sich unbändig. Dabei täte sie besser daran, seinen Kopf in die Regentonne zu stecken, bis die Farbe aus seinem Haar gewaschen war!
Iven biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten.
Der Vater weinte immer noch.
»Bruder, komm an mein Herz!« Nun schritt Hans Jorgen mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
»Das kann nicht dein Ernst sein! Bleib mir bloß vom Leib!«, brummte Iven abwehrend.
»Aber …« Hans Jorgen sah ihn entgeistert an.
»Was erwartest du? Was denkst du dir eigentlich? Schneist nach vielen langen Jahren herein und verlangst, mit offenen Armen aufgenommen zu werden? Mutter kannst du vielleicht beeindrucken. Ihr Verstand ist schließlich nicht mehr der hellste. Aber mir machst du bestimmt nichts vor. Geh bloß wieder, damit Vater endlich aufhört zu weinen.«
»Ivi, ach, komm schon! Stell dich nicht so an.« Hans Jorgen zog eine Grimasse, die er wohl für die eines unschuldigen kleinen Jungen hielt.
Ivi? Hatte Hans Jorgen ihn tatsächlich so genannt? Ivens Halsschlagader pulsierte. Sein Blick wanderte zu dem Schüreisen neben dem Ofen und blieb dort haften.
»Untersteh dich! Ich will kein Bruderblut sehen.« Sein Vater wischte sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase.
Erst jetzt bemerkte Iven, dass der alte Mann sie beobachtete. Er schüttelte sich kurz und zwang sich zur Ruhe. Um der Eltern willen. Auf freiem Feld wäre er seinem Bruder längst an die Gurgel gesprungen.
Hans Jorgen wandte sich um, trat an den Herd und rümpfte die Nase. »Mir steht der Sinn eher nach einem saftigen Braten.«
»Den bekommst du im Wirtshaus«, stellte Iven missmutig fest.
»Ach, Brüderlein, sei mir doch nicht so spinnefeind. Ich freue mich sehr, wieder bei euch zu sein. Hier in meinem trauten Heim.« Hans Jorgen warf Küsse in die Luft.
Das war zu viel. Entweder ging Iven seinem Bruder an den Kragen, oder er verließ das Haus. Doch wohin sollte er sich wenden? Mit vor Wut kochendem Blut in den Adern beschloss er, den Abend im Bett zu verbringen. Ohne die Suppe im Bauch. Wortlos stieg Iven die Treppe hinauf in seine Kammer. Als er im Bett lag, ertönte von unten die Laute. Um Hans Jorgens schiefen
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