Die Maori-Prinzessin
ja nicht ganz so verkehrt sein«, fügte Lucie hastig hinzu und musterte ihre Schwester prüfend, doch die hatte offenbar nicht bemerkt, welchen Schrecken sie Lucie mit ihrer Frage, ob sie die Geschichte auch lesen dürfe, eingejagt hatte. Sie konnte ihr schlecht sagen, dass das auf keinen Fall möglich wäre, weil sie auch ein Geheimnis offenlegen würde, von dem Harakeke niemals erfahren durfte … Verstohlen musterte sie ihre Schwester. Unterschiedlicher wie wir kann man gar nicht sein, dachte sie. Schon vom Aussehen her. Harakeke kam ganz nach dem Vater und wurde bereits von Weitem als Maori erkannt, während Lucie gelegentlich für eine sonnengegerbte Pakeha gehalten wurde. Sie kam ganz nach ihrer Mutter, in deren Stamm die Frauen alle feingliedriger waren als die meisten Maorifrauen. Auch vom Charakter her unterschieden sie sich grundlegend. Lucie war stets bemüht, nach außen wie eine Dame aufzutreten, während Harakeke sich gern burschikos gab. Sie lehnte feine Pakeha-Kleider ab, während ihre Schwester stets Wert auf Mode gelegt hatte.
Das mit meinem Pakeha-Namen wird sie mir niemals ganz verzeihen, ging es Lucie gerade durch den Kopf, als Harakeke sich noch einen Whiskey bestellte. Denn auch in diesem Punkt konnten sie verschiedener nicht sein: Harakeke war eine trinkfeste Person, während Lucie Alkohol regelrecht verabscheute.
N APIER , D EZEMBER 1930
Misses Bolds Stimme klang rau und kräftig, als sie »Herein!«, rief. Zögernd betrat Eva das Zimmer, zu dem Adrian sie auf Wunsch der alten Dame gebracht hatte.
»Mach es gut. Sie beißt nicht!«, sagte er grinsend und verschwand.
Eva hatte gehofft, dass Adrian sie begleiten würde, aber nun war sie allein mit der vornehmen Lady, die kerzengerade an einem Tisch saß und sie zu sich heranwinkte.
»Komm näher!«, sagte sie und deutete auf den Sessel ihr gegenüber. Das Zimmer schien – genau wie die Fassade des Hauses – aus der Zeit gefallen. Jedes Möbel, das Evas flüchtiger Blick erhaschen konnte, war ein Stück aus der spätviktorianischen Epoche.
Als sie Misses Bold genauer ansah, fragte sie sich, worin ihre Ähnlichkeit mit Joanne bestehen mochte. Sie waren völlig unterschiedlich. Die Tochter war extrem hellhäutig, während ihre Mutter einen ebenmäßigen dunklen Teint besaß. Als ob sie gern in der Sonne saß. Und sie wirkte jünger, als Eva es vermutet hatte. Im Gegensatz zu den hellen Augen ihrer Tochter glänzten die der alten Dame wie Bernsteine. Und während aus den Augen der Tochter Gleichgültigkeit und Kälte sprachen, waren in denen der Mutter Mitgefühl, Wärme und ehrliches Interesse zu lesen.
»Mein Kind, erst einmal möchte ich dir sagen, dass es mir sehr leid um deine Mutter tut. Es ist sicherlich nicht einfach, plötzlich allein am anderen Ende der Welt anzukommen, nicht wahr?«
Eva nickte. Das Aussehen täuscht also nicht, sie hat ein völlig anderes Wesen als Tante Joanne, ging ihr durch den Kopf, während sie nach einer Tasse Tee griff, die Misses Bold ihr ungefragt gereicht hatte.
»Ich will nicht neugierig sein, aber woran ist deine Mutter gestorben? War sie krank? War es die Grippe, die offenbar auf einigen Auswandererschiffen recht heftig gewütet haben soll?«
»Nein, meine Mutter litt unter Schwermut und hat sich das Leben genommen.«
»Oh, entschuldige, dass ich dich so ausgefragt habe. Du musst ja einen schrecklichen Schock erlitten haben. Ich weiß ja noch, wie es Berenice und Adrian erging, als sich ihr Vater …« Sie unterbrach sich und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Ihr Enkel hat es mir erzählt. Sie haben nichts ausgeplaudert, was ich nicht wissen sollte.«
Misses Bold legte den Kopf schief. »Die Augen, die hast du von den Bolds. Tom hatte sie auch. Er sagte immer, das seien die schindlerschen Augen.«
Eva stutzte. »Ich habe mir zuvor keine Gedanken darüber gemacht, aber wieso hieß der Bruder meines Großvaters Bold und nicht Schindler?«
Misses Bold lächelte. »Schindler, so war sein Name, als er in Nelson ankam, denn eigentlich wollte er in die deutsche Kolonie nach Sarau, doch dann bekam er auf der Überfahrt den Rat, erst einmal nach Dunedin zu gehen und an dem Goldrausch zu partizipieren. Das machte ihn zu einem wohlhabenden Mann. Damit konnte er ein kleines Weingut erwerben, und er gab sich diesen englischen Namen.«
»Bei uns zu Hause hieß er nur ›der Abenteurer‹, aber man hätte wohl nie wieder etwas von ihm gehört, wenn nicht Ihre Tochter diesen Brief an meinen Vater
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