Die Maori-Prinzessin
wird ihn dazu bringen, dass er sie heiratet.«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
In diesem Augenblick kam Henry wie ein geprügelter Hund die Treppe hinuntergeschlichen, mit leerem Blick und grauem Gesicht.
»Und? Haben Sie sie gesehen?«, fragte Eva.
»Ich habe sie gehört! Das genügte. Betrachten Sie meine Verlobung mit Berenice Clarke als gelöst. Und ich befürchte, Ihre schlimmsten Befürchtungen sind eingetreten. Sie hat ihm offensichtlich das gegeben, was sie mir immer mit dem Hinweis auf die Hochzeitsnacht verweigert hat. Meine Güte, was war ich nur für ein Dummkopf. Ich habe das für einen Ausdruck ihrer Liebe gehalten und nicht als Teil ihres Plans erkannt, sich an mich zu binden, während sie weiterhin nach etwas Besserem gesucht hat. Eigentlich wünsche ich Ihrem Bruder, dass er mit diesem Biest gestraft ist, aber vielleicht können Sie ihn davon abbringen. Versuchen Sie Ihr Glück. Vielleicht schaffen Sie es, ihn vor dieser Dummheit zu bewahren. Sie hatten schon recht, Misses Clarke. Gegen Vermögen, Charisma und so viel geballte Männlichkeit in einem Kerl komme ich nicht an.«
Henry nickte ihnen noch einmal zu, bevor er zur Garderobe ging und sich Hut und Mantel geben ließ.
»Ich gehe da jetzt hinauf!«, schnaubte Eva.
»Nein, mein Liebling, das tust du nicht. Warte, bis du die Gelegenheit hast, mit deinem Bruder unter vier Augen zu sprechen. Was weiß er eigentlich von Berenices Gemeinheiten?«
»Gar nichts. Ich habe es vorgezogen, sie in den Briefen an meine Familie gar nicht zu erwähnen. Und wenn ich nun nachdrücklich mit der Wahrheit rausrücke, wird er mir dank Berenice kein Wort glauben.«
»Komm, mein Schatz, wir haben hier nichts mehr verloren!«
Seufzend ließ sich Eva von Daniel in den Mantel helfen. Arm in Arm verließen sie das scheußliche Fest.
N APIER , J ANUAR 1905
Mit geballten Fäusten hatte sich Joanne vor ihrer Mutter aufgebaut und funkelte sie mit zornigem Blick an. »Warum hast du mir das nicht viel eher gesagt? Dann hätte ich mich nicht mit der Frage gequält, warum ich eine Maori als Mutter habe, während alle meine Freundinnen weiße Mütter haben?«
Lucie blieb ruhig. Als wenn sie geahnt hätte, dass es einmal so kommen würde und dass sie in dem Augenblick besonders stark sein müsste. Außerdem faszinierte sie das Feuer, das dieses Wesen in sich trug. Joanne war zu einer temperamentvollen und wunderschönen jungen Frau herangewachsen. Mit Hilfe des Kindermädchens Stella war es gelungen, ihr nach und nach ihre Unduldsamkeit auszutreiben. Man erfüllte ihr zwar weiterhin die meisten ihrer Wünsche, doch, wenn sie etwas nicht bekam, gab es keine Dramen im Hause Bold. Das Einzige, was Lucie große Sorge bereitete, war die Tatsache, dass Joanne offenbar den gesamten jungen Männern der Stadt den Kopf verdreht hatte.
Lucie hatte in diesem Augenblick nur ein Ziel: Auf keinen Fall die Fassung zu verlieren!
»Joanne, es ist nicht wahr, was man dir da gesagt hat. Ich bin deine leibliche Mutter. Daran gibt es nichts zu rühren!«
»Aber Rosalyn hat es selbst gehört, als ihre Mutter es unter dem Siegel der Verschwiegenheit der Teegesellschaft geflüstert hat!«
Lucie zuckte die Achseln. »Ich denke, dass Vater und ich die besseren Zeugen für deine Geburt sind als eine Teegesellschaft bei Rosalyns Mutter.«
»Vater habe ich ja noch gar nicht fragen können, aber das schwöre ich dir! Wenn er nach Hause kommt, dann werde ich es ihm auf den Kopf zu sagen. Und ich weiß, er würde mich nie belügen.«
»Mein Kind, warum willst du denn diesen Menschen so gern glauben? Mehr als deiner eigenen Mutter?«, fragte Lucie mit sanfter Stimme. Es war nicht leicht, sich keine Emotionen anmerken zu lassen. Natürlich spürte sie den brennenden Wunsch dieses Kindes, keine Halbmaori zu sein. Aber sie, Lucie, würde ihn ihr nicht erfüllen. Nein, dieser eine Wunsch würde Joanne verwehrt bleiben bis an ihr Lebensende. Niemals würde sie erfahren, dass ihre Mutter das Liebchen ihres Vaters gewesen war. Lucie versuchte, sich einzureden, dass dies ungleich schlimmere Folgen für die Seele der jungen Frau haben könnte …
Zu Lucies großem Schrecken stampfte Joanne jetzt mit dem Fuß auf. Genauso wie sie es als kleines Kind getan hatte. Lucie zuckte zusammen. Nur nicht die Beherrschung verlieren, redete sie sich gut zu. »Ich will eine Mutter wie Rosalyn. Sie hat das schönste blonde Haar, das ich je gesehen habe …«
»Aber das hat die Natur dir doch alles geschenkt. Du
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