Die Maori-Prinzessin
war viel zu groß.
»Aber, Mutter, das kannst du nicht tun. Doktor Thomas ist der Einzige, der Vater retten kann.«
»Nein, das ist er nicht«, erwiderte Lucie in eiskaltem Ton. »Er wird höchstens ein Sargnagel für ihn sein, wenn Vater erfährt, was hier gespielt wird!«
Dann rief sie laut: »Stella!«
Lucies Vertraute eilte sofort herbei. »Kannst du anspannen lassen und Doktor Proust aus Hastings bitten, uns einen Hausbesuch abzustatten? Außerdem bitte meine Schwester zu kommen. Sag ihr, es ist etwas mit Tom und wir brauchen ihre Hilfe.«
Stella fragte nicht nach, sondern versprach, sich umgehend darum zu kümmern.
»Du willst Vater nicht etwa deiner Schwester anvertrauen?«
Lucie ignorierte diese Frage, sondern wandte sich Doktor Thomas zu, der keine Anstalten machte, das Haus zu verlassen.
»Junger Mann, ich glaube, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Ich glaube, Ihre junge Frau und Ihr kleiner Sohn warten zu Hause auf Sie.«
»Bitte, geh nicht, bitte«, flehte Joanne, als sich Doktor Thomas erhob, und klammerte sich an ihn. Er befreite sich ganz sanft und versicherte Joanne mit einem vernichtenden Seitenblick auf Lucie: »Ich lasse dich nicht im Stich, Joanne Bold, das schwöre ich dir!«
»Raus hier!«, fauchte Lucie und reichte ihm seinen Hut. Doktor Thomas riss ihn ihr förmlich aus der Hand und verließ hocherhobenen Hauptes die Veranda. Lucie hielt Joanne fest, damit sie ihm nicht folgen konnte, doch sie riss sich mit Gewalt los. Lucie aber gab nicht auf. Sie folgte den beiden bis zur Haustür, und bevor Joanne mit Bertram Thomas nach draußen schlüpfen konnte, hatte sie ihre Tochter fest am Arm gepackt, ins Haus zurückgezogen und der Tür mit dem Fuß einen kräftigen Tritt versetzt.
»Ich hasse dich!«, schrie Joanne, bevor sie die Treppe nach oben stürzte.
N APIER , D EZEMBER 1908
Tommy liebte sein neues Spielzeug über alles. Wenn er schon seit dem Ausstieg seines Vaters aus dem Geschäft wie ein Wahnsinniger schuften musste, so wollte er wenigstens am Wochenende seinem Vergnügen nachgehen. Und da gab es für ihn nun einmal nichts Schöneres als das Segeln. Und als man ihm die einundzwanzig Zoll lange, fast nagelneue Jacht aus Kauriholz angeboten hatte, musste er zugreifen. Und nun verbrachte er jedes Wochenende in der Lagune. Meistens segelte er mit seinem Freund John Clarke, aber er hatte auch schon seine Eltern überreden können, ihn zu begleiten. Zu seinem Erstaunen hatte sich seine Mutter sicher auf den schwankenden Planken bewegt, während das Schwanken und Schaukeln seinem Vater gar nicht behagt hatte.
Eigentlich konnte Tommy zurzeit mit seinem Leben sehr zufrieden sein. Das Geschäft lief hervorragend, dem Vater ging es seit seinem Anfall vor drei Jahren dank Harakekes Trank und der Betreuung durch den neuen Arzt wesentlich besser, seine Eltern verstanden sich prächtig, und er hatte gerade sein Herz an eine junge Frau aus Meeanee verloren. Endlich hatte er sich ernsthaft verliebt. Er hatte viele Liebschaften gehabt, aber die eine, mit der er eine Familie hatte gründen wollen, war ihm lange nicht begegnet. Bis er Ellen getroffen hatte. Ihm ging das Herz auf, wenn er an sie dachte. Das nächste Mal werde ich sie mit auf das Boot nehmen, beschloss er in diesem Augenblick, und dann mache ich ihr einen Antrag. Nur seine Schwester machte ihm Kummer. Es gefiel ihm, dass sie nun öfter mit John Clarke ausging. Schließlich war sie inzwischen im heiratsfähigen Alter. Was ihm allerdings äußerst missfiel, war das, was er neulich Abend mit eigenen Augen gesehen hatte. Er hatte kurz aus dem Fenster geblickt, als er Joanne hatte heimkehren hören. Und wenn ihr Begleiter John gewesen wäre, hätte er sich diskret von seinem Beobachtungsposten zurückgezogen, aber es war dieser Doktor gewesen, Bertram Thomas. Der hatte seine Schwester geküsst, und zwar in einer Art und Weise, die Tommy mehr verraten hatte als tausend Worte. Wer sich so leidenschaftlich küsste, den verband mehr als ein freundschaftliches Verhältnis.
Tommy hatte Joanne den Eltern gegenüber nicht verraten, denn er wusste, wie heftig seine Mutter reagierte, wenn auch nur der Name des Arztes in diesem Haus erwähnt wurde. Für seine Mutter war Bertram Thomas ein rotes Tuch. Dennoch konnte Tommy es nicht einfach übergehen. John war sein bester Freund, der ganz offenkundig von seiner Schwester hintergangen wurde. Und das, obwohl John ihm kürzlich glückstrahlend gestanden hatte, dass Joanne seinen Heiratsantrag
Weitere Kostenlose Bücher