Die Maori-Prinzessin
Raum wird nicht mehr betreten, solange ich lebe. Hast du das verstanden?«
In diesem Augenblick tat Eva Tante Joanne fast ein wenig leid. Wenn sie geahnt hätte, dass Lucie sich so sehr darüber aufregen würde, hätte sie wahrscheinlich lieber ihren Mund halten sollen. Was befürchtete die alte Dame? Dass ihre Tochter ihre Sachen wegwarf oder dass sie diese überhaupt zu Gesicht bekam? Was war mit der Kiste mit den unheimlichen Spielzeugsärgen? In diesem Haus stimmte etwas nicht. Dessen war sich Eva jetzt sicherer denn je. Damit man sie nicht beim Lauschen erwischte, eilte sie zu dem Badezimmer, das neben ihrem Zimmer auf dem Flur lag. Sie ließ sich heißes Wasser einlaufen, zog ihr schmutziges Zeug aus und schrubbte sich in der Wanne den Dreck vom Körper und aus dem Gesicht. Zum Schluss wusch sie ihr dickes blondes Haar und fühlte sich wie neugeboren. Sie wickelte sich in ein Handtuch und wusch ihr Kleid aus, bevor sie zurück in ihr Zimmer eilte. Wie gern hätte sie etwas Sommerliches angezogen, aber im Kleiderschrank hingen lediglich eine Reihe von dunklen Wollkleidern für den deutschen Winter. Sie war noch nicht dazu gekommen, sich in der Hastings Street dem Klima gemäß einzukleiden. Doch dann entdeckte sie eine weiße Bluse und einen leichten Rock. Sie erinnerte sich dunkel, wie diese Sachen in ihrem Gepäck gelandet waren.
»In Neuseeland ist Sommer, mein Kind. Pack auch etwas Leichtes ein«, hatte ihre Mutter sie ermahnt, aber irgendwie war diese Botschaft nicht bei Eva angekommen. Vielleicht, weil sie sich an diesem Tag an die Hoffnung geklammert hatte, ihre Mutter könne wieder gesund werden. Denn an diesem Tag war ihre Mutter regelrecht aufgedreht gewesen und hatte Zuversicht ausgestrahlt. Eva hatte ihre Worte noch in den Ohren, als wäre es gestern gewesen. »Ich glaube, das Klima wird mir guttun und die vielen neuen Eindrücke!« Ihre Stimmung hatte bis kurz nach ihrer Abreise angehalten. Sogar die ersten Tage auf dem Schiff war sie noch fröhlich gewesen, aber schließlich hatte sie tagelang nur noch stumpf auf der engen Pritsche im Frauenschlafsaal gelegen. Und nun war es ihr nicht einmal vergönnt gewesen, die weiche Sommerluft und diese betörenden fremden Gerüche einzuatmen.
Eva wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und zog hastig die Kleidungsstücke hervor. Auch wenn der Rock schon ein wenig verschlissen und die Bluse am Kragen schon einmal weißer gewesen war, fühlte sie sich rundherum wohl.
Als sie wenig später in Lucies Zimmer trat, saß die alte Dame in ihrem Sessel und schien durch sie hindurchzusehen.
»Soll ich später wiederkommen?«, fragte Eva rücksichtsvoll.
»Nein, nein, es ist gut so. Ich möchte, dass wir vorankommen«, erwiderte Lucie, während ihr Blick immer noch ins Leere zu gehen schien.
Eva setzte sich und betrachtete die entrückte alte Dame verstohlen. Es quält sie etwas, mutmaßte Eva, denn Lucie hatte die Stirn in Falten gelegt und aus ihren Augen sprach tiefe Trauer. In diesem Augenblick sah sie älter aus als sonst. Wie alt mochte sie überhaupt sein? Siebzig, achtzig? Eva konnte sie schwer schätzen. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut, und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Wenn sie Lucie nichts von der Putzaktion erzählt hätte, wäre sie nicht so wütend geworden und würde jetzt nicht stumm vor sich hinbrüten. Dass es da einen Zusammenhang mit ihrem Stimmungswechsel gab, dessen war Eva sich sicher, aber sie traute sich nicht nachzufragen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte sich Lucie Eva zu. Ihr Gesicht war nun wieder wie verwandelt. Es war glatter, beinahe faltenfrei und aus ihren Augen funkelte die alte Lebensfreude.
»Entschuldige, mein Kind, dass ich geträumt habe; in diesem Raum dort unten sind Geheimnisse verborgen, die nicht für meine Tochter bestimmt sind. Sie würde mich nur noch mehr ablehnen, wenn sie wüsste, was sich dahinter verbirgt oder sollte ich lieber sagen, darunter?«
»Aber was ist mit euch beiden geschehen? Du bist ihre Mutter! Warum liebst du sie nicht, wie eine Mutter ihre …?« Eva schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Das hatte sie wirklich nicht aussprechen wollen, auch wenn sie sich das bereits seit ihrer Ankunft fragte.
Ein trauriges Lächeln umspielte Lucies Mund. »Ich liebte sie einst mehr, als ich es ihr je hätte sagen können!«
»Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten, ich, nein, ich dachte nur, wie …«, stammelte Eva.
»Es ist schwer zu verstehen, ich weiß, und
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