Die Marionette
gemacht.
***
Rheintal bei Koblenz, Deutschland
Katja Rittmer strich behutsam über das mattschwarze Metall des Gewehrlaufs, spürte der Rundung nach und setzte ihn mit einem leisen Schnappen auf die Waffe. Alles passte perfekt. Ein Präzisionswerkzeug. Der Kolben drückte gegen ihre Schulter, als sie ansetzte, zielte, den Finger am Abzug. Sie atmete langsam, gleichmäßig. Durch das Zielfernrohr beobachtete sie die Menschen unten auf der Straße. Ihre Gesichter im Fadenkreuz. Sie wussten nichts vom Tod, der lauerte. Wussten nichts über das Töten. In einem Moment noch lachten sie, im nächsten rangen sie vergeblich nach Luft. Es war zu Ende, bevor sie begriffen, was geschah. Nichts blieb. Nur das Entsetzen der Umstehenden. Die Schreie. Das Klagen der Frauen. Sie war dabei gewesen, hatte sie mit den Amerikanern aufgespürt, die Männer der Taliban, in den Dörfern, in denen sie sich versteckt hielten. Im Schutz der Nacht waren sie aufgebrochen, hatten Position bezogen und stundenlang gewartet, bis sie ihre Häuser verließen, Frauen und Kinder um sich. Mitten im Satz, den sie sprachen, traf sie der Tod. Die Hand erschlaffte, die eben im Vorbeigehen noch das Haar eines Kindes berührt hatte. Der Körper fiel. Eine weitere Kerbe in einem Gewehrkolben.
Sie ließ die Waffe sinken, starrte darauf, dann wieder aus dem Fenster ihres Hotelzimmers. Auf die Menschen, die dort in der Sonne flanierten. Sie hörte ihre Stimmen, ihr Lachen. Je länger sie sie betrachtete, desto klarer wurde ihr, dass sie ihr ebenso fremd waren wie die Taliban. »Irgendwann gibt es nur noch einen Ort, an dem du zu Hause bist, und das ist der Krieg«, hatte ihr ein amerikanischer Offizier einmal gesagt. »Du kannst nicht zurück, nach allem, was du gesehen hast.« Sie hatte ihm nicht geglaubt.
Das Gewehr lag plötzlich schwer in ihrer Hand. Mit geübten Griffen nahm sie es auseinander. Legte die Einzelteile zurück in den Koffer und schloss ihn sorgfältig. Fragte sich, ob sich der Mann an sie erinnern würde, von dem sie es gekauft hatte. Die Behörden hatten sie zur Fahndung ausgeschrieben, nachdem sie die beiden Beamten abgeschüttelt hatte, die seit ihrer Entlassung aus dem Hamburger Untersuchungsgefängnis an ihr geklebt hatten wie die Fliegen. Sie hatten Angst vor ihr. Vor dem, was sie tun könnte. Sie lächelte bei dem Gedanken. Sie hatten keine Ahnung. Sie war selbst überrascht gewesen, wie sich das Bild mit einem Mal gefügt hatte. Sogar Chris’ Tod hatte darin seinen Platz und damit einen Sinn bekommen. Es geschah nichts einfach so.
Sie packte ihre Sachen. Es war Zeit, das Hotel zu verlassen. Sie warf einen letzten Blick auf die Passanten auf der Straße. Sie glaubten, den Krieg ignorieren zu können. Das Töten und das Sterben. Sie nannten es nicht einmal Krieg.
[home]
22. Mai
Hamburg, Deutschland
R
ufnummer unterdrückt,
zeigte das Display ihres Mobiltelefons an. Valerie Weymann zögerte, nahm den Anruf schließlich aber doch an.
»Valerie, hier ist Eric. Kannst du sprechen?«
»Eric!«, entfuhr es ihr. »Wo bist du? Ist alles in Ordnung?«
Das Letzte, was sie über ihn gehört hatte, war, dass er in Afghanistan verschwunden war. Untergetaucht, tot …
»Ich bin in etwa zwei Stunden in Hamburg. Ich brauche deine Hilfe.«
Er kam mit dem ICE aus Frankfurt. Der Zug fuhr gerade auf dem Hauptbahnhof ein, rollte langsam aus, als sie die Treppen zum Gleis hinunterstieg. Wie alle anderen Wartenden versuchte sie vergeblich, die Passagiere durch die getönten Scheiben zu erkennen. Dann öffneten sich die ersten Türen, Reisende quollen auf den Bahnsteig. Suchend blickte sich Valerie um. Ein kleines Mädchen rannte gegen sie und sah erschrocken zu ihr auf. »Nicht so hastig«, mahnte Valerie mit einem Lächeln und dachte an ihre Zwillingstöchter Leonie und Sophie.
Die Menschen um sie herum strömten den Ausgängen zu. Eric war nirgends zu sehen. Erst als sich der Bahnsteig allmählich leerte, entdeckte sie ihn. Eine einsame Gestalt, grau vor Erschöpfung. Sie klemmte ihre Tasche unter den Arm und rannte auf ihn zu. »Eric!«
Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie begrüßte. Sein Anzug war zerknittert, er war unrasiert und schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Stützend legte sie den Arm um ihn. »Komm«, sagte sie, »mein Wagen steht gleich draußen in der Kirchenallee.«
Es war Mittag. Sie hatte einen Tisch reserviert in einem Restaurant in der Nähe, aber sie sprach es nicht einmal an. »Hast du
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