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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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das?«
    Talgarth schweigt.
    Als wäre er der ganzen Angelegenheit plötzlich
überdrüssig, hebt Reid die Hand über den Kopf und
winkt nach hinten, dann geht er zu seinem Platz zurück. Doch
er setzt sich nicht. Seine Unterstützer und auch andere
Zuschauer erheben sich.
    Reid langt unter das Jackett, und auf einmal entsteht
hektische Bewegung, als die Menge auseinanderstrebt –
einige fliehen, andere schließen sich einer der beiden
Gruppen an. Tamara und ein paar Leute, die Dee nicht kennt, Ax
– seinen aufgeregten Kommentaren nach zu schließen
– hingegen schon, bilden um Wilde einen Schutzwall. Die
Kameras schwenken umher, die Streitparteien stehen einander mit
gezogenen Waffen gegenüber.
    Talgarth spricht eilig in sein Knopflochmikrofon und macht
nicht minder hektische Zeichen. Dee bemerkt, dass die Waffen auf
den stählernen Palisaden herumschwenken und in den
Gerichtshof hinunterzielen.
    Eine schwebende Kamera schwenkt plötzlich herum und zoomt
auf das Tor, das sich unbemerkt geöffnet hat. Die
abgerundete Schnauze eines Panzerfahrzeugs schiebt sich hindurch.
Dee blickt vom Fernsehfenster zu den Fenstermonitoren, wo sich
ihr der gleiche Anblick aus anderer Perspektive bietet. Das
Fahrzeug ist das ihre.

 
16    Der
Winterbürger
     
     
    Ich erwachte vom Rumpeln der Panzerfahrzeuge auf den
Straßen, wälzte mich auf den Rücken und blickte
durch die sechseckigen Glasscheiben der Kuppel zum blassen,
kalten Himmel auf. Es war zehn Uhr morgens. Ich hatte geschlafen,
doch die ANR war wie immer pünktlich. Nach den gestrigen
anstrengenden Fernsehinterviews und den realen und virtuellen
Besuchen bei Milizeinheiten hatte ich mir eine Ruhepause ehrlich
verdient. Ich trug nicht einmal mehr die Verantwortung eines
nominellen Diktators von Norlonto – sobald der letzte
Milizanführer überzeugt worden war, hatte ich mich auf
die Rolle des Vorsitzenden des
Verteidigungsverbindungsausschusses beschränkt.
    Ein Luftschiff schwebte vorbei, verzerrt durch die Brechungen
des Glases. Dann noch eins und noch eins, in dichter Folge. Ich
überlegte, ob da wohl einige Leute fliehen wollten, bevor
der Staat einrückte. Zweifellos gab es so manche, die lieber
keine Fragen beantworten wollten. Kritiker des
Hannoveranerregimes, Versprengte des Bürgerkriegs,
Deserteure… vielleicht sogar liberalistische Idealisten
der Weltraumbewegung, die einen Platz auf einer Rakete ergattern
wollten, bevor sich die Ausstiegsluke der Erde endgültig
schloss, wie die Schwarzseher unter ihnen es wohl befürchten
mochten.
    Nach zwanzig Jahren als Bewohner einer funktionierenden
Anarchie war ich also wieder Staatsbürger geworden. Die
Panzer und die Truppentransporter rumpelten, die Luftschiffe und
Helikopter schwebten und summten vorbei. Annette murmelte etwas
im Schlaf und regte sich. Ich streichelte über ihr langes
weißes Haar und glitt unter dem Federbett hervor, warf mir
ihren Pelzmantel über und stieg barfuß die Leiter von
unserem Nest unter dem Kuppeldach hinunter.
    Ich druckte ein paar Zeitungen aus, setzte Kaffeewasser auf
und ging zur Tür. Die Kuppelanlage, in der wir wohnten, lag
ein Stück weit von der Straße zurückgesetzt,
zwischen Gehwegen, Teichen, Rasenflächen und
Cannabisgärten. Kinder tollten umher, Hühner
stolzierten in ihren Gehegen auf und ab. Nur die Hunde reagierten
noch auf den Vorbeimarsch der Armee.
    Die Panzer bewegten sich wie immer schneller und leiser als
erwartet. Die darauf sitzenden Soldaten trugen ANR-Uniformen,
individuell herausstaffiert mit Halstüchern, Patronengurten
und den Insignien der Streitkräfte, von denen sie abgefallen
oder desertiert waren. Sie kauten oder rauchten und blickten von
oben auf uns herab, während aus den Lautsprechern Rockmusik
plärrte. Ich sah ihnen lange zu, während mir die
Schenkel prickelten.
    Dann bückte ich mich und sammelte die gelieferten
Nahrungsmittel auf: Obstsaft, Milch, Eier, Brot und
Brötchen. Die Tüten und Kartons waren mit einer
Reifschicht bedeckt; offenbar lagen sie schon seit Stunden hier.
In Norlonto gab es kaum Kleinkriminalität. Ich fragte mich,
wie lange dieser Zustand wohl noch andauern würde.
Während ich Eier und Schinken briet und Seiten aus den
Zeitungen herausriss, fiel mir eine Rechnung vom Supermarkt ins
Auge. Gemäß unserer Arbeitsteilung war Annette
für den Einkauf zuständig. Der Preis des Kaffees und
der Zigaretten bestürzte, der Preis der Nahrungsmittel

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