Die Mars-Stadt
keine
schweren Strafen mehr kennen, Psychopathen ihre Blutschuld als
Darsteller in Snuff-Videos tilgen lassen?«
»Genau«, sagte ich. »Willst du immer noch
mit dem Geld wegrennen?«
»Nein!« Sie funkelte mich an, dann senkte sie den
Blick auf den Tisch. »Aber da es niemanden gibt, dem wir es
zurückgeben könnten, wäre es kontraproduktiv, wenn
wir die Aktien an jemanden verkaufen würden, der noch
weniger Skrupel hat als du, und das Geld zu verschenken wäre
ganz schön heuchlerisch.«
»Um nicht zu sagen feige.«
»Genau. Päpstlicher als der Papst.«
»Also, was schlägst du vor?«
»Verwende das Geld dazu, seine Herkunft
offenzulegen«, sagte Annette mit Nachdruck. »Mach
dich schlau und bring dann eine Kampagne ans Laufen, damit offen
darüber diskutiert wird. Das müsste eigentlich
möglich sein.«
»Und mit welchem Ziel?«
»Ach, komm schon! Wenn es Missbrauch gibt, könnte
dies dazu beitragen, dem ein Ende zu machen.«
Wir mussten beide über diese Bemerkung lachen, doch wie
Annette sagte, nachdem wir in düsteres Schweigen verfallen
waren: Hatten wir denn eine andere Wahl?
Ich kreiste im Datenraum vorsichtig um die Darstellungen des
Hinterlandes des kasachischen Raumhafens und bemerkte den
Schriftzug der Firma, die ich vor so langer Zeit gegründet
hatte: Weltraumhändler. Es herrschte ein reger Material- und
Informationsfluss zu Myras kasachischem Arbeiterministaat und
Reids Gesellschaft für Wechselseitigen Schutz. Ich
erhöhte die Auflösung und versuchte, mir über die
Vorgänge klar zu werden.
Die Firmen hatten sich verändert und waren stärker
gewachsen, als wir jemals geplant hatten. Die
Weltraumhändler waren nun im Import-Export-Geschäft
zwischen Erde und erdnahem Orbit tätig und hatten sich von
den unschuldigen Anfängen im Space-Trash-Markt für
Weltraumfans ebenso weit entfernt wie die neuesten SSTO-Booster
von Goddards Amateurraketen. Die Internationale
Technisch-Wissenschaftliche Arbeiterrepublik, der man die
Nuklearzähne längst gezogen hatte, hatte sich auf die
Entwicklung von Trägerraketen verlegt. Die ITWAR hatte dem
Sog der kasachischen Einigung widerstanden, und die Gesellschaft
für Wechselseitigen Schutz unterhielt dort eine
größere Niederlassung. Und nicht nur dort: Die Firma
war nun auf drei Kontinenten für die Sicherheit und die
Wiedergutmachungseinrichtungen verantwortlich und überwachte
das Einfordern der Wiedergutmachung von allen Kriminellen oder
Saboteuren, die dumm genug waren, ihre Kunden zu
schädigen.
Es war schon eigenartig, dass sich die persönliche
Dreiecksbeziehung zwischen mir, Myra und Reid wie die
Familienbeziehungen dynastischer Armeen auf der wirtschaftlichen
Ebene wiederholte; ob diese Verbindungen etwas bedeuteten, stand
allerdings auf einem anderen Blatt. (Wie ich bereits in Ignoramus!, meinem Beitrag zur
Konterverschwörungstheorie der Geschichte, ausgeführt
habe, kennt jeder jemanden, der jemanden kennt, der…
(usw.), und nichts ist leichter, als die vorgezeichneten Linien
mit Tusche nachzuziehen; wenn man sich vorstellt, dass die
erstaunlich wenigen Händedrücke, welche die normalen
Leute von den Berühmtheiten trennen, allesamt eigenartig sind… Als ich dies unbedachterweise mit
einem Diagramm veranschaulichte, das über zwei oder drei
Ecken meine eigenen Verbindungen darstellte, welche die
›Existenz‹ einer mysteriösen Letzten
Internationalen bewiesen, die die Liberalisten und Futuristen in
aller Welt miteinander und mit einer langen Liste
ungewöhnlicher historischer Aspekte in Verbindung setzte,
führte dies zu einigen Missverständnissen:
Anschließend erhielt ich jahrelang anonyme E-Mails, bei
denen es sich angeblich um Memoranden des Zentralkomitees der
Letzten Internationalen handelte.)
Firewalls schützten die Datenbestände der meisten
Firmen, auf deren matten virtuellen Oberflächen die
Überbleibsel kürzlich erfolgter Hacker-Angriffe
verblassten. Ich bewegte mich weiter, auf der Suche nach
Eingangsknoten. Ohne Vorwarnung kontaktierte jemand mein Avatar.
Meine Hände fühlten sich plötzlich warm an. In den
Datenhandschuhen wurde es immer wärmer. Heiß.
Ich hielt einen versiegelten Briefumschlag in Händen, das
iconhafte Äquivalent einer persönlichen Nachricht: Da
sie auf einem anonymen Transaktionsprotokoll basierte, war sie
auf einem Monitor nicht zu lesen, bloß in der VR mittels
des Empfängeravatars. Außerdem handelte es sich um
Weitere Kostenlose Bücher