Die Mars-Stadt
möglich.«
»Könnte man sagen«, pflichtete er mir bei.
»Aber sie hat mir keine Chance gegeben.«
»Du hättest gar nicht erst deine Nase in die
verdammte Zeitung stecken dürfen«, sagte ich.
Kurz nach zehn gingen die Mädchen. Wir beeilten uns,
ihnen zu folgen, und verloren sie in der Schlange aus den Augen,
schafften es aber, uns den Tisch neben dem ihren zu sichern.
»Möchtest du tanzen?«, schrie ich. Das
UV-Licht hob die Nylonnähte ihres Rocks hervor, ein
Stroboskop mit sichtbarem Licht erfasste ihr Nicken. Das
Stück war schnell, das nächste langsam. Gegen Ende
hatten wir uns gegenseitig die Hände auf die Schultern
gelegt. Ich sah auf sie hinunter. »Danke«, sagte
ich.
Sie stellte irgendwas mit ihren Augen an: Die grüne Iris
wurde flüssig, die Pupillen weiteten sich zu schwarzen
Tümpeln, in denen man versinken konnte.
Mir fiel nichts Besseres ein, als sie nach ihrem Namen zu
fragen.
»Annette«, antwortete sie.
»John Wilde«, sagte ich. »Möchtest du
was trinken?« Ich war ertrunken, doch mein Mund bewegte
sich noch.
»Ein Glas Lager, danke.« Sie wandte sich
lächelnd zum Tisch um. Als ich zurückkam,
übertönte Reid gestikulierend den Lärm. Sie
hörte zu, mit geneigtem Kopf, das Kinn auf die Hand
gestützt. Die Musik wechselte erneut, Reid stand auf und
reichte Annette die Hand. Sie nickte, bedankte sich bei mir mit
einem flüchtigen Lächeln, trank einen Schluck
Lagerbier, und schon tanzten sie los.
»Da is’ wohl jemand mit dem falschen Fuß
aufgestanden«, sagte mir eine amüsierte Frauenstimme
von hinten ins Ohr. Als ich mich umdrehte, erblickte ich ein
Mädchen mit langen rotbraunen Ponyfransen, aus denen ihr
Gesicht hervorlugte wie ein kleines Säugetier aus dem
Unterholz. Sie trug eine Bluse mit Zugbändern am Hals und an
den Aufschlägen, einen langen blauen Rock und hohe
Stiefel.
»Ja«, sagte ich und nickte ihr über die
Schulter zu. »Er ist ein fürchterlicher
Tänzer.«
Sie lachte. »Ich hab dich gemeint«, meinte sie.
»Aber keine Bange. Annette flirtet bloß ein
bisschen.«
»Sie kann jederzeit mit mir flirten«, sagte ich.
»Lass uns in der Zwischenzeit Bekanntschaft
schließen, damit sie was zum Nachdenken hat.«
»Das gibt ihr noch mehr Grund zum Nachdenken«,
sagte sie und verblüffte mich mit einem Kuss, worauf sie
sich an mich schmiegte, sodass wir nach einigem
Stühlerücken und in sorgfältig gewählter
Stimmlage eine Unterhaltung führen konnten, die nur wir
beide hören konnten. Hin und wieder, wenn die Musik
aufhörte und jemand eine neue Platte auflegte (keine CD, die
kamen erst später), hörten wir uns einander etwas
zuschreien.
Sie hieß Sheena. Kurzform von Oceania, wie ich
später erfuhr.
»Woher kennst du Annette?«
Sheena verzog angesichts meiner Themenwahl das Gesicht.
»Ich wohne mit ihr zusammen!«, schrie sie mir
vertraulich zu. »Ich arbeite mit ihr. Wir sind
Labortechniker. Am zoologischen Institut. Und was machst du
so?«
Ich sagte es ihr und brüllte und gestikulierte bald wie
ein richtiger Wissenschaftler. Aber wenn ich damit Annette dazu
bringen wollte, mehr Interesse an mir zu zeigen, so gelang es mir
nicht.
Eine kalte Nacht, kein Frost, Laub auf den Gehwegen, das an
fossile Fische erinnerte. Dave, Annette, Sheena und ich blieben
an der Brücke stehen und blickten über die
Brüstung auf das friedliche Tosen des Kelvin hinunter.
»Ist bestimmt das einzige Ding, das nach einer
Maßeinheit benannt ist«, sagte Reid. Ich lachte
über die Bemerkung, und die Mädchen lachten auch.
»Es sollte mehr davon geben!«, sagte ich.
»Die Joules-Zündung! Die
Ampere-Strömung!«
»Loch Liter!«
»Ben Meter!«
»Oder Computersprachen«, sagte Reid, als wir
weitergingen, zur Linken das BBC-Büro von Schottland, zur
Rechten der Botanische Garten mit dem riesigen kreisförmigen
Gewächshaus, eine fliegende Untertasse von einem Mars des
neunzehnten Jahrhunderts. »Fortran-Treppe.
Basic-Komplex…«
»Ada-Siedlung!«
»Stras Cobol!«
Als wir an der Wohnung der Mädchen ankamen, hatten wir
die Newton Heights und Candela Beach erfunden, und ich versuchte
die anderen davon zu überzeugen, dass sämtliche
Einheiten auf Namen zurückgingen; zum Beispiel auf
Jean-Baptiste de Metre, den bekannten Enzyklopädisten,
Girondisten und Zwerg.
»Nach der Revolution hat er natürlich auf das
›de‹ verzichtet«, erklärte ich,
während Annette mit dem Schlüsselbund
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