Die Mars-Stadt
versteckt.
»Mir scheint das ein bisschen viel erwartet«,
meinte Reid. »Wir sind im falschen Jahrhundert geboren
worden. Ich schätze, wir müssen halt das Beste draus
machen, genau wie die anderen armen Schweine.«
Ich hielt die Zigarette mit gestrecktem Arm von mir ab und
betrachtete sie. »Sonderlich viel tun wir aber nicht
dafür.«
»Ich betrachte es als ein Wettrennen mit der
medizinischen Entwicklung«, sagte Reid. »Ich trinke
übrigens Export.«
Ich bemerkte, dass unsere Gläser leer waren, und sprang
auf, zerknirscht darüber, dass es mir nicht schon eher
aufgefallen war. Als ich zurückkam, hatte Reid sich in die
Zeitung vertieft, die er mir verkauft hatte, und da ich mir nicht
sicher war, ob ich die Unterhaltung fortspinnen wollte, lehnte
ich mich zurück und ließ die Gedanken ein wenig
schweifen. Es wurde allmählich voll. Die Jukebox spielte Rod
Stewarts ›Sailing‹, einen Song, der bei mir stets
einen rührseligen Exilpatriotismus für ein Land
auslöste, das es nicht gab, so als wäre ich in einem
früheren Leben ein Bewohner von Atlantis gewesen. Als er
geendet hatte, wechselte meine Stimmung, ich blickte mich wieder
um und bemerkte, dass Reids Zeitung noch eine Leserin gefunden
hatte, die neben ihm saß und sich mit geneigtem Kopf
vorgebeugt hatte, um die Rückseite zu lesen. Das krause
schwarze Haar fiel ihr seitlich ins Gesicht. Schwarze
Augenbrauen, schwarze Wimpern, große grüne Augen, die
sich beim Lesen bewegten (langsam bewegten, wie mir auffiel),
eine kleine, hübsche Nase, breite Wangenknochen, von denen
sich die Wangen, die weder mager noch plump waren, in sanftem
Schwung von den vollen (und unbewusst mitlesenden) Lippen zum
kleinen, festen Kinn absenkten.
Sie sah von der Zeitungsseite auf und lächelte mir ohne
Verlegenheit zu. Ich verspürte eine so starke physische
Erschütterung, dass ich sie nicht einmal mit einer Emotion
in Verbindung brachte. Und dann senkte Reid die Zeitung und sah
sie an. Sie richtete sich auf, und jetzt auf einmal wirkte sie
leicht verlegen. Sie saß mit einem Schwarm anderer
Mädchen zusammen, die den Nachbartisch in Beschlag genommen
hatten und sich unterhielten.
»Hallo«, sagte Reid. »Findest du das
interessant?«
»So was seh ich zum ersten Mal«, sagte sie.
»Ich begreife nicht, wie jemand Streiks unterstützen
kann.« Sie hatte einen Westküstenakzent, sprach aber
– genau wie Reid – englisch mit Akzent und nicht
schottisch wie die Glasgower. Wahrscheinlich war sie aus der
Gegend des Clyde River oder aus Irland oder vom Highland:
Englisch erst in der ersten oder zweiten Generation als
Muttersprache.
»Das ist eine sozialistische Zeitung«, sagte Reid.
Er sah mich um Unterstützung heischend an. »Wir sind
auf Seiten der Arbeiter, verstehst du?«
»Aber wir haben eine sozialistische Regierung«,
entgegnete sie entrüstet. »Und die will keine Streiks,
oder?«
»Wir halten die Labour-Regierung keineswegs für
sozialistisch«, erklärte Reid.
»Aber schadet es nicht dem Land, wenn die Leute streiken
dürfen und dabei noch sozial abgesichert sind?«
»In gewisser Weise ja«, sagte Reid, der
normalerweise an dem Punkt bereits die Geduld verloren
hätte. »Aber wenn du mit ›dem Land‹ die
Mehrheit seiner Bewohner meinst, dann rühren die
gegenwärtigen Probleme nicht von den streikenden Arbeitern
her, sondern von den Bossen und Bankern, die weitermachen wie
bisher. Das sind diejenigen, die dem Land in Wahrheit teuer zu
stehen kommen.«
»Du hast eine eigenartige Sichtweise«, sagte sie,
eine Feststellung, keine Frage. Sie ließ das Thema fallen
und wandte sich wichtigeren Dingen zu. »Geht ihr gleich
noch in die Disco?«
»Ja«, antwortete ich, bevor Reid einen weiteren
politischen Erziehungsversuch starten konnte. »Du
auch?«
»O ja«, sagte sie. »Vielleicht sehen wir uns
ja noch.« Sie lächelte uns zu, dann stieg sie wieder
in die Unterhaltung mit ihren Freundinnen ein. Ich starrte sie
einen Moment lang an, während ihr das Haar über das
schlichte weiße Hemd fiel. Das Hemd steckte in einer engen
Bluejeans und ihre Füße in hochhackigen Schuhen. Ihre
Kleidung und, jetzt wo ich daran denke, auch ihr Make-up wirkten
adrett und normal für eine Studentin. Das galt auch für
ihre Freundinnen, von denen einige wie sie, andere todschick
gekleidet waren.
»Tja«, meinte ich, als Reid meinen Blick auffing,
»was die Anmache betrifft, sind wohl noch Verbesserungen
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