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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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Reid.
    Es nieselte, und wir wandten uns geduckt in die Park Road,
eilten an der Pseudo-Tudor-Fassade des Blythswood Cottage Pub
vorbei und stürmten ins Voltaire & Rousseau, das beste
Antiquariat in Glasgow. Ich hatte Reid zur Mittagszeit getroffen,
nachdem ich ihn wochenlang nicht gesehen hatte – zum Teil
deshalb, weil ich konzentriert an meiner Dissertation arbeitete,
zum Teil auch weil Reid entweder politisch aktiv war oder mit
Annette ausging. Im ersten Monat ihrer Bekanntschaft hatte ich
hin und wieder mal mit ihnen gezecht, doch es war mir zu
peinlich, um damit fortzufahren.
    »Er schlief ein«, sagte ich lachend. »Ich
rührte die Flasche nicht an und weckte ihn im Hauptbahnhof
auf. Anscheinend hatte er den Vorfall vergessen. Schien so, als
hätte er mich nicht mehr erkannt.«
    Wir bewegten uns nach Krabbenart seitlich und musterten mit
schief gelegtem Kopf die Regale, welche die schmalen
Ladenwände säumten. Als Erstes pflegten wir die
Abteilungen für Politik und Philosophie zu
durchstöbern, dann – falls wir noch Geld übrig
hatten – begaben wir uns in das Hinterzimmer mit den
SF-Taschenbüchern. Einer der Ladenbesitzer – ein
großer, rundlicher, freundlicher Bursche mit dünnem
Haar und dicken Brillengläsern – sah an der Kasse
lächelnd von seinem Buch auf und nickte uns zu. Ich
vermutete, dass er Rousseau war; sein hagerer, finsterer Partner
wäre folglich Voltaire gewesen.
    »Wahrscheinlich ein Anhänger der Independent Labour
Party«, murmelte Reid und stürzte sich auf einen
blauen Band Dietzgen aus dem Verlag Charles H. Kerr & Co. Er
pustete den Staub davon ab und nieste.
    »Eins fünfzig!«, sagte er mit leiser Stimme,
damit Rousseau nicht seine Freude mitbekam und womöglich
begriff, welches Geschäft sie sich hatten entgehen lassen.
Reid suchte weiter, ein Rotschopf, der sich an
erinnerungsschweren Regalen entlangbewegte.
    »Weißt du«, fuhr er fort, »die
Vorstellung, dass all diese alten Militanten ihre Bibliotheken
verhökern, um ihre Pensionen aufzubessern, macht mich ganz
krank. Oder sie sterben, und ihre Kinder – mein Gott, ich
seh sie direkt vor mir, in mittleren Jahren, Mittelklassewichser,
die sich der Erinnerungen des alten Trottels stets ein wenig
geschämt haben –, wie sie in seinen pathetischen
Sachen wühlen und ein Regal mit sozialistischen Klassikern
finden und sie schon in den Müll befördern wollen, als
ihnen die Aussicht auf ein paar Kröten auf einmal ein
gieriges Funkeln in die Augen zaubert!«
    »Für uns ja nur gut«, sagte ich, steckte die
Finger zwischen zwei Bücher und zog ein Pamphlet hervor.
»Gerade die, die auf dem Müll landen, ziehe ich
– he, guck dir das mal an!«
    Es war mir egal, ob mich jemand hörte. Das war nahezu
einzigartig, ein lebendes Fossil: ein Pamphlet der
›Russland-Heute-Gesellschaft‹ aus der Kriegszeit,
mit dem Titel ›Sowjetische Milizionäre‹.
Nachdem die Sozialistische Partei Großbritanniens darin den
unwiderlegbaren Beweis erblickt hatte, dass sich hinter der
sozialistischen Fassade der UdSSR eine Klasse wohlhabender
Besitzender verbarg, war es bald aus dem Verkehr gezogen
worden.
    »Mein Vater hat mir davon erzählt«, meinte
ich zu Reid. »Aber nicht mal er hatte ein Exemplar. Ich
werd’s ihm schicken.«
    »Hab ich’s doch gewusst!« Reid grinste von
der Trittleiter auf mich herunter. »Du bist wirklich ein
selbstloses Arschloch! Du bist ein Erbsozialist!«
    »Ideologie ist erblich?«, spottete ich. »Und
was bist du dann?«
    »Ein raffgieriger Kulak, schätze ich«, sagte
er selbstzufrieden. »Ah, was haben wir denn da?« Er
schlug ein Buch auf und besah sich das Deckblatt. »Stirner, Das Ich und sein Eigentum. Mit Stempel des Glasgower
Anarchistischen Arbeiterzirkels, 1943. Fünf
Pfund.«
    Ich blickte mit offenem Mund zu ihm auf. Erst als er mir das
Buch wegzog, wurde mir klar, dass ich die Hand danach
ausgestreckt hatte. »Nee, nee. Das gehört dem
Finder.«
    »Damit kannst du doch gar nichts anfangen«, sagte
ich.
    »Ach, ich weiß nicht.« Reid stieg die Leiter
herunter und hielt mir das Buch wie einen schwarzen Gral vor die
Nase. »Junghegelianer, deutsche Ideologie und all das.
Marxistische Gelehrsamkeit.«
    »Du willst mich verarschen!«
    »Stimmt«, sagte Reid. »Aber ich habe
tatsächlich Verwendung dafür. Ich werd’s kaufen,
und sobald wir auf der Straße sind, überlasse
ich’s dir für einen Zehner.«
    Zwei Wochen lang kein

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