Die Mars-Stadt
Mittagessen und wieder Selbstgedrehte,
damit konnte ich leben.
»Abgemacht!« Ich hätte beinahe geschrien.
Reid trat einen Schritt zurück und musterte mich.
»War bloß ein Test«, meinte er und
drückte mir das Buch in die Hand. »Du hast
bestanden.«
Im bleigrauen Licht des Raucherzimmers der Gewerkschaft, wo
die Luft geschwängert war vom unappetitlichen Geruch des
mehrfach gefilterten Kaffeesatzes, nahmen wir auf abgewetzten
Ledersesseln Platz und blätterten in unseren Neuerwerbungen.
Ich lächelte über die gewundene Dialektik des
Kriegsbefürworters, runzelte die Stirn über die
bemühte Argumentation des großen Amoralisten.
Faschismus, Kommunismus und Anarchismus machten die gleichen
Wurzeln für sich geltend, nämlich die Berliner Bars der
Vierzigerjahre des achtzehnten Jahrhunderts. Das Wien der
Jahrhundertwende ist mir lieber, dachte ich, die Ringstraße
ist ein Teilchenbeschleuniger für Ideen.
Wir lehnten uns im selben Moment zurück. Reid spielte mit
dem Bambushalter des Guardian vom Vortag. Die MPLA hatte
nicht zum letzten Mal Huambo eingenommen.
»Wie geht’s Annette?«, fragte ich mit
vorsichtiger Beiläufigkeit.
»Gut, so viel ich weiß«, antwortete Reid. Er
blätterte eine Seite um.
»Du hast sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen,
oder?«
Reid legte die Zeitung weg und beugte sich vor, musterte mich
scharf. »Wir haben uns irgendwie… ich weiß
auch nicht… entfremdet, auseinanderentwickelt.«
»Schade«, sagte ich. »Wie
kommt’s?«
Reid breitete die Arme aus. »Sie hat wirklich einen
wachen Verstand, aber einer dermaßen unpolitischen Person
bin ich noch nicht begegnet. Sie liest niemals Zeitung. Es ist
sehr schwer, mit ihr ein Gesprächsthema zu finden.« Er
lächelte zerknirscht. »Klingt blöd, ich
weiß, aber so ist es nun mal.«
Ich nickte mitfühlend: Ja, Frauen sind schwer zu
durchschauen. Ich überlegte, wo das zoologische Institut
lag.
Ich ging die University Avenue entlang, zu meiner Linken das
langgestreckte, victorianische Universitätsgebäude
– ein Witzbold hatte es in einem Studentenblatt mal als
›Burg des Schreckens‹ bezeichnet –, zu meiner
Rechten der wellsianische Lesesaal aus den Dreißigern. (Ich
war nicht mehr dort gewesen, seit ich herausgefunden hatte, dass
alles daran vollkommen war, mit Ausnahme der Akustik, die der
einer Flüstergalerie ähnelte.)
Oben auf dem Hügel stand die Fußgängerampel
auf Rot. Ich wartete auf das kleine grüne Männchen und
fragte mich, ob ich nicht auf der Stelle umkehren und so lange
warten sollte, bis ich das Treffen mit Annette als
Zufallsbegegnung hinstellen konnte…
Nein, sagte ich mir entschlossen. Wenn du Interesse
hast, gehst du auch hin. Ich überquerte die Straße
und ging zu der Kreuzung hinunter, dann bog ich nach links auf
eine Universitätsstraße ein, die zwischen wuchtigen
Gebäuden aus grauem Sandstein einherführte, die sich
mit Rasenflächen mit Blumenbeeten und kleinen Bäumen
abwechselten. Das Zoologische Institut war in einem dieser alten
Gebäude untergebracht, so massiv wie eine Kirche, mit einem
Fundament aus noch älterem Fels. Im Innern poliertes Holz,
Kacheln, der Geruch von tierischen Exkrementen. Hinter einer
Glasscheibe hervor musterte mich neugierig ein Pförtner. Ich
beschloss, kühn zu sein, und fragte ihn, wo Annette arbeite.
Er sah auf die Uhr und auf einen Zeitplan, dann sagte er es
mir.
Das Labor kam mir zunächst menschenleer vor. Dann sah ich
Annette, die mir den Rücken zuwandte und an der
gegenüberliegenden Wandseite Papiere auf einem Labortisch
auslegte. Ich drückte die Schwingtür auf und
näherte mich ihr. Auf das Geräusch meiner Schritte hin
drehte sie sich um und sagte:
»Entschuldigung, aber das Praktikum ist… Ach,
hallo, Jon.«
Sie hatte sich das Haar zurückgebunden, ihre Figur war
unter einem weißen Laborkittel versteckt. Gleichwohl
erschien sie mir so begehrenswert wie eh und je.
»Hi«, sagte ich. Sie musterte mich forschend mit
ihren grünen Augen.
»Lass mich mal raten«, sagte sie. »Du
interessierst dich neuerdings für die Anatomie der
Wirbellosen, stimmt’s?«
Sie deutete auf den Labortisch. Ich blickte auf eine halb mit
Wasser gefüllte Glasschale hinunter, in der ein paar kleine
Seeigel lagen – oder vielmehr sich bewegten, wie mir
auffiel, als ich genauer hinsah. Auf den Labortischen waren
Blätter mit Notizen ausgebreitet, mit Diagrammen der Organe
der
Weitere Kostenlose Bücher