Die Mars-Stadt
plötzlich, wie ihr Ausbruch angefangen hatte,
hörte er auch wieder auf. Sie legte die Fäuste auf
meine Schultern und sah mit trockenen Augen zu mir auf. Sie
schniefte.
»Ach, Gott, du musst mich ja für verrückt
halten«, sagte sie. »Das hast du nicht
verdient.«
Ich schlang die Arme um sie und drückte sie an mich, nahm
die Gelegenheit wahr, mich umzublicken. Es muss ausgesehen haben,
als kämpften wir miteinander. Aber das hier war Glasgow, und
solange sie nicht mit einer Flasche auf mich losging, würde
niemand Notiz von uns nehmen.
»Das ist mir lieber als ›was du auch sagst, sag
nichts‹«, meinte ich. »Zumal ich deiner
Meinung bin.«
»Tatsächlich?« Sie wich von mir zurück
und musterte mich nachdenklich. »Heißt das, du
glaubst an gar nichts?« Sie klang ungläubig und
hoffnungsvoll.
Ich musste an Myras Neckerei denken: Eischentlisch bin isch
ein individualischtischer Anarschist. Aber mit irgendwelchen
Ismen kam ich hier nicht weiter. Ich glaube an dich, hätte
ich gerne gesagt, aber das hätte es auch nicht getan. Sie
wirkte so unglaublich ernsthaft!
Ich schluckte. »Kein Gott, kein Land, keine
›Gesellschaft‹. Bloß Menschen und Dinge, und
Menschen, einer nach dem anderen.«
»Bloß wir?«
Ich ließ mir das durch den Kopf gehen; die Versuchung
war groß. Es wäre ein guter Vorwand gewesen, sie enger
an mich zu binden.
»Auch kein Wir, es sei denn, wir entschieden uns
dafür, und auch nur so lange, wie wir beide dazu
stehen.«
»Ich weiß nicht, ob ich damit leben
könnte.«
»Immerhin besser, als mit etwas anderem zu
sterben.«
Sie quittierte meine schlagfertige Entgegnung mit einem
unverdient warmen Lächeln.
»Tja«, sagte sie, »jedenfalls versuchst du
mich nicht bloß vollzulabern.« Sie ergriff wieder
meine Hand und steckte sie in ihre Parkatasche. »Komm,
begleite mich nach Hause.«
Wir gingen durch die regennassen Straßen, als wären
wir an der Hüfte zusammengewachsen, und blieben alle paar
hundert Meter stehen, um uns zu umarmen und zu küssen. Worte
wurden nicht viele gewechselt. Als wir in ihrer Wohnung angelangt
waren, drang gedämpftes Licht und leises Kichern aus Sheenas
kleinem Zimmer. Wir umarmten und küssten uns, betatschten
und wälzten uns umher, doch als ich mehr wollte, schob sie
mich weg.
»Ich bin noch nicht so weit«, sagte sie.
»Ist schon in Ordnung«, meinte ich.
»Vielleicht solltest du jetzt gehen. Manche Leute
müssen morgens früh aufstehen.«
»Vielleicht hast du Recht. Wie wär’s mit
morgen?«
Sie stand auf und zog mich auf die Beine.
»Mal sehen… Am Samstag bin ich auf einer Hochzeit
eingeladen. Morgen in der Mittagspause muss ich einkaufen.
Damenparty am Abend, am nächsten Abend muss ich mich
erholen. Und Sachen zum Anziehen raussuchen und so.« Sie
knickste ironisch. »Hättest du Lust, zur
Hochzeitsfeier mitzukommen? Am Samstag?«
»Klingt großartig! Danke.«
Sie riss ein Blatt von einem Notizblock ab und kritzelte etwas
darauf. »Ort, Zeit, Buslinien«, sagte sie und reichte
es mir.
»Vielen Dank. Also, bis dann.«
Wir waren an der Tür angelangt.
»Wir müssen uns noch gute Nacht sagen«,
meinte sie, und das taten wir dann auch ausführlich.
Die Feier fand in einem Hotel statt, in einem Viertel, wo ich
noch nie gewesen war, zu erreichen über eine Abfolge von
Bussen, die durch Gegenden fuhren, von deren Existenz ich nicht
einmal wusste. Es sah dort aus, als sei ein Krieg verloren
gegangen: Die Wohnblocks waren entweder dem Erdboden
gleichgemacht oder verfallen, die Straßenlaternen kaputt,
um Feuerstellen hockten Obdachlose oder
Straßenkinder…
Später erfuhr ich, dass dies das Ergebnis eines als
Entwicklungsprojekt kaschierten Straßenbauvorhabens war,
doch damals… Wie ich so im verräucherten Oberdeck des
Busses saß, bekleidet mit einem Anzug, den ich
normalerweise nur bei Einstellungsgesprächen trug –,
schwelgte ich wohlig in pessimistischen Gedanken über den
Zusammenbruch der Zivilisation. Nach einer Weile wurden die
Inseln der Dunkelheit jedoch seltener, und schließlich
stieg ich in einem Wohngebiet vor einem beruhigend hell
erleuchteten und betriebsamen Hotel aus. Ich folgte dem Licht und
dem Lärm bis zum Festsaal, wo es wie in einer Disco aussah,
abgesehen davon, dass die meisten Leute im Sonntagsstaat
erschienen waren und dass die Altersverteilung in etwa einer
Normalverteilungskurve entsprach.
An den Wänden waren Tische
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