Die Mars-Stadt
Jahrhunderten von Friedenskampagnen –
die es alle nicht geschafft hatten, zunehmend zerstörerische
Kriege zu verhindern (wenn sie nicht sogar aktiv dazu beigetragen
hatten).
Die Fahne der schottischen Gewerkschaft der wissenschaftlichen
und technischen Angestellten rauschte durch den Eingang, und als
sie näher gesegelt kam, entdeckte ich Annette ein paar
Reihen dahinter. Sie ging neben einem Mann, in dem ich zu meiner
freudigen Überraschung Reid erkannte. Wir hatten ihn in den
vergangenen zehn Jahren häufiger gesehen und die Verbindung
aufrecht erhalten: Wenn er in London politisch tätig war,
hatte er des Öfteren bei uns übernachtet.
Während meine Mutter mit Eleanor redete und mein Vater
mit einem verirrten Spartakisten diskutierte, stand ich im
Schatten der Bäume und sah sie näher kommen. Sie waren
in eine Unterhaltung vertieft, schauten ernst drein und nahmen
ihre Umgebung überhaupt nicht wahr. Als sie nur noch etwa
zwanzig Meter entfernt waren, wandte Reid, vielleicht abgelenkt
durch die Stimmen in seiner Nähe, den Blick und bemerkte
mich. Er berührte Annette am Ellbogen, sie sah mich
ebenfalls, und beide lösten sich sogleich aus der Demo und
eilten zu uns herüber.
Reids Haar war kürzer und ordentlicher als bei unserer
letzten Begegnung auf einer Konferenz von Critique im
vergangenen Jahr. Sein Hemd, seine schwarze Jeans und die
Reebok-Turnschuhe waren neu. Seine Jeansjacke war verwaschen,
ausgefranst und bepflastert mit Plaketten gegen Reagan und
Thatcher, Cruise Missiles und Pershing-Raketen; für die
Sandinisten und Solidarnosc und (als reichte ihm diese gewagte
Kombination noch nicht) einem rot-goldenen Emailleabzeichen, das
die Moskauer Olympiade von 1980 feierte. In einer Hand hatte er
eine Tragetasche.
»Hi, Dave. Freut mich, dich zu sehen, Mann.«
»Ja, ebenfalls.« Er klopfte mir auf die Schulter.
»Hallo, Eleanor. Bist ja ganz schön gewachsen.«
Eleanor zeigte die Lücken in ihren weißen
Milchzähnen vor. Ihr Blick wanderte wieder zu den bunten
Plaketten.
Die Diskussion meines Vaters war in eine Sackgasse geraten.
Der Spartakist, ein knochiger Bursche mit Strickmütze und
Lumberjack, bemerkte Reid und machte kehrt wie ein Radar, das
sein Ziel gefunden hatte.
»Genosse«, setzte er an, trat vor und brachte ein
Bündel Flugblätter in Kampfposition.
»Ach, verpiss dich«, sagte Reid, ihn kaum eines
Blickes würdigend. Er wandte sich an meinen Vater.
»Guten Tag, Mr. Wilde. Ich bin David Reid. Annette und Jon
haben mir schon viel von Ihnen erzählt.«
»Martin«, sagte mein Vater. »Und das ist
meine Frau Amy. Freut mich, dich kennen zu lernen, David.«
Er grinste. »Jonathan hat mir erzählt, für einen
Trotzkisten wärst du recht helle.«
Reid sah mich erstaunt an. Ich hob die Schultern und breitete
die Arme aus. »Ich übernehme keine Verantwortung
für das, was sein verschrobenes Hirn aus meinen Bemerkungen
macht.«
»Können wir jetzt zu McDonalds gehen?«
Mein Vater lächelte Eleanor an und sah auf die Uhr.
»Gleich kommen ein paar Genossen«, meinte er.
»Wie steht’s mit dir, David?«
Reid schwenkte die Tragetasche an einem Finger.
»Das meiste hab ich verkauft. Ja, ich hätte nichts
dagegen, mich für ein halbes Stündchen zu
verdrücken.«
»Jetzt werden sowieso bloß langweilige Reden
gehalten«, sagte Annette. Sie lächelte und schwenkte
anmutig die Arme. »Meinetwegen.«
»Sie bringt nie was zu Demos mit«, erklärte
ich.
»Bloß meine Schönheit.«
»Das reicht«, sagten Reid und ich gleichzeitig,
und wir mussten alle lachen.
Wir warteten noch eine Weile, bis die Genossen meiner Eltern
auftauchten – zu meiner Überraschung hatten sie
grünes Haar und gepiercte Nasen. Dann querten wir durch die
Unterführung die Hauptstraße, traten zwischen den
goldenen Bögen hindurch und stellten fest, dass es ziemlich
voll war. Viele Plaketten und Plastiktüten, viel
kampfmüdes Schwarz.
»Verdammte Antiamerikaner«, murmelte Martin, als
wir uns in die Schlange einreihten. »Unterernährt,
unterbezahlt und stets im Weg!«
Derlei Bemerkungen machte er bei jeder Gelegenheit, da
antiamerikanische Gesinnung erwartet wurde, doch ich brummte
bloß, während Reid breit grinste. »Genau«,
sagte er. »Sie kommen einfach her und nehmen uns die
Sitzplätze weg…«
Zehn Minuten später saßen wir dicht
zusammengedrängt um ein Etwas, das weniger ein Tisch als
vielmehr die exakte Plastikreplik eines
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