Die Mars-Stadt
eingetragen hatten.
»Nehmt euch zusammen, ihr Anarchisten«, sagte
Annette und drückte ihre Zigarette aus. Etwas in ihrem
Tonfall und ihrer Gestik sagte mir, dass sie verärgert war
– da sie uns auch schon früher auf Demos geschleppt
hatte, wusste sie, dass unsere Einwände nicht prinzipieller
Natur waren, sondern eher auf Faulheit beruhten. Es war das Jahr
von Tschernobyl und Tripolis, und ausgerechnet jetzt sperrten wir
uns.
»Was hältst du davon, wenn wir uns dort
treffen?«, schlug ich hastig vor. »Eleanor und ich
könnten zum Markt in Camden flitzen, und dann besuchen wir
Opa und Oma in Marble Arch und warten auf dich, und
anschließend gehen wir alle zu McDonalds.«
Es war Eleanor anzusehen, dass sie überlegte, ob sie das
Abklappern von Ständen mit alten Büchern in Kauf nehmen
sollte, um ihre Großeltern zu sehen und sich mit
Cheeseburger und Milchshake vollzustopfen. Ihrem plötzlichen
Strahlen nach zu schließen ging die Rechnung auf. Ich
wandte mich Annette zu, die mich nachsichtig anlächelte.
»Also gut«, sagte sie. »Wenigstens werdet
ihr da sein.« Anmutig umflossen von Nachthemd und
Negligée, erhob sie sich. »Und jetzt auf«,
setzte sie hinzu, bückte sich und tätschelte Eleanors
hochgereckten Po. »Pack deinen kleinen Arsch in ordentliche
Sachen.«
»Müssen wir wirklich?«
Es gab Momente – jetzt zum Beispiel und bisweilen auch
beim Zubettgehen –, da ich es bedauerte, die Frage
»Daddy, was bedeutet Willensfreiheit?« nicht mit
einer Ausflucht beantwortet zu haben.
»Nein, wir müssen nicht«, antwortete
ich. »Aber wir gehen hin, weil ich es, verdammt noch mal,
so will.«
»Ich werd Mummy sagen, was du gesagt hast.«
»Was hab ich denn gesagt?«
»Verdammt.«
»Nur zu, du Petze.«
»Was is’n eine Petze?«
»Ein noch viel schlimmeres Wort. Ein schreckliches
Wort.«
Wir eilten die Holloway Road entlang. Obwohl es Sonntag war,
stauten sich Laster, hupende Schnauze an stinkendem Heck. Ich
machte die Umweltschützer dafür verantwortlich, die
seit Jahren den Ausbau der Archway Road verhinderten und die
ganze Gegend mit der Planungspest überzogen. Zumindest
minderte das die Preise von Erdgeschosswohnungen. Ich machte mir
Luft, indem ich ›Die Grünen Protestler‹
anstimmte, während Eleanor singend neben mir herhüpfte.
Als wir bei der Zeile ›… gäb’s keine
grünen Protestler mehr, gäb’s eine Straße
durch die Wand!‹ angelangt waren, saßen wir bereits
im Bus nach Camden.
Im Oberdeck, wo die Äste an uns vorbeistreiften. Die
Raucher mussten hinten sitzen. Auch dafür machte ich die
Umweltschützer verantwortlich.
Chalk Farm Road und Camden Market hoben meine Stimmung, was
sie stets taten, ganz gleich, ob ich etwas fand oder nicht. Buden
und Gassen und das unbesiegbare Flohmarktflair, die schwarzen
Plastiktüten und Vordächer die Banner einer
anarchistischen Armee, die noch existieren würde, wenn die
anderen Armeen ihr Zerstörungswerk vollendet hatten, falls
dann überhaupt noch etwas übrig wäre.
Wir erstanden eine ledergebundene Ausgabe von Lord Macaulay
für mich und ein altes Kunstseidenmieder für Annette,
einen Korallenbriefbeschwerer für meine Eltern und einen
kletternden Holzaffen für Eleanor. Daher hatte ich gute
Laune, als wir hinter den in Reihen gestaffelten Polizisten am
Marble Arch ankamen und meine Mutter und meinen Vater in der
Nähe der Speaker’s Corner entdeckten. Wie ich erwartet
hatte, verteilten sie Flugblätter und Pamphlete und
irritierten ganz allgemein die ersten eintreffenden Kontingente,
die – mit dem vollkommen ungerechtfertigten Gefühl,
etwas erreicht zu haben – von einem anderen Park in diesen
geschlendert kamen.
Eleanor rannte zu ihren Großeltern und umarmte sie. Ich
schlang die Arme um beide und überließ sie wieder
ihrer Arbeit. Groß, gebückt, grauhaarig und so
zäh wie ein altes Paar Stiefel, hatten sie dies alles schon
gesehen: die Friedensbewegung, die Atomwaffengegner, das Komitee
der 100, Solidarität mit Vietnam und abermals die
Atomwaffengegner… Heute verkauften sie eine erstaunliche
Anzahl von Pamphleten. Während ich mit einem Auge die Demo
verfolgte und mit dem plauderte, der gerade nicht voll
beschäftigt war, blätterte ich in einer Broschüre
mit dem Titel ›Ist der Dritte Weltkrieg
unvermeidlich?‹: die Titelseite ebenso düster wie die
Propaganda der Friedensbewegung, der Inhalt eine frostige
Abrechnung mit zwei
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