Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
Vom Netzwerk:
Atomkriegspolicen vernachlässigt hatten.
    Wie ich schon sagte, ich war daran gewöhnt, doch im
Moment – eine Nachwirkung der Klinik oder der Demonstranten
– war mir alles zu viel.
    »Ich fühle mich grauenhaft«, sagte ich.
»Der Kopf tut mir weh, und mein Magen fühlt sich wie
ausgepumpt an.«
    »Ach, hör auf zu jammern«, sagte Annette.
»Es ist nicht schlimmer als ein Kater.«
    »Ein beruhigender Gedanke«, meinte ich. Vor uns
lag ein Straßenlokal. »Eine Pinte Amstel wäre
jetzt genau das Richtige.«
    Annette schwenkte ein Faltblatt der Gesundheitsbehörde
vor meiner Nase. »Hier steht…«
    »Ja, ich weiß, was da steht. Sehe ich etwa so aus,
als ob ich Waffen oder schwere Maschinen bedienen
würde?«
    »Eigentlich nicht.« Grinsend ließ sie sich
auf einem Plastikstuhl nieder, der gefährlich nahe am
Bordstein stand. »Für mich ein Pils. Die Kebabs sehen
wirklich gut aus.«
    Ich rief dem Ober die Bestellung zu; er verschwand durch eine
Schwingtür und tauchte eine Minute später wieder auf.
Über der Tür hing das übliche Poster von Abdullah
Öcalan. Ich habe nie begriffen, weshalb die Exilanten des
Demokratischen Kurdistan – durch und durch Unternehmer
– dem Großen Führer noch immer ihre Referenz
erwiesen. Vielleicht wurden sie ja erpresst. Ich nahm mir vor,
dies einmal zu überprüfen. Für eine
Schutzorganisation, die ihnen bessere Bedingungen bot als die
Schutzgelderpresser ihrer Partei, mochte da einiges zu holen
sein. Aber vielleicht deutete ich die Lage auch völlig
falsch – Nationalismus war mir so fremd wie eh und je.
    Die Passanten, überwiegend Kurden und Türken,
strömten an uns vorbei übers Pflaster. Hinter unserem
Rücken folgten Tiere und Fahrzeuge einem ungeschriebenen
Gesetz, wonach das Vorfahrtsrecht auf Geschwindigkeit und
Lautstärke beruhte. Am Himmel schwebten Luftschiffe den
fernen Masten des Alexandra Port entgegen. Ich lehnte mich
zurück, genoss die Sonne und die sich ausbreitende wohlige
Wärme der Speisen und des Biers.
    »Hast du geträumt?«, fragte Annette.
    Ich schüttelte den Kopf. »Du?«
    »Ich glaub schon«, sagte sie mit einem
geheimnisvollen Lächeln. »Ich hörte eine warme,
freundliche Stimme und sah ein weißes Licht, und ich
erinnere mich, dass ich dachte: Toll! Endlich machst du mal eine
Todeserfahrung!, aber das Licht kam von der Sonne und die Stimme
von der zählenden Technikerin.«
    »So ist es«, sagte ich. »Das Sonnenlicht ist
wirklich das weiße Licht.« Diese materialistische
Einsicht war alles, was von den Magic-Mushroom-Trips meiner
Studentenzeit übrig geblieben war. Das und die Vision dreier
Gottheiten: Mutter Natur, Fortuna und Miss Liberty, die –
wie mir anschließend klar wurde – für
Notwendigkeit, Zufall und Freiheit standen und somit
tatsächlich alles beherrschten.
    »Stell dir mal vor«, sagte Annette,
»näher werden wir dem Tod nie kommen.«
    »Klopf auf Plastik!« Ich klopfte auf den Tisch.
Wir lachten, verschränkten unter dem Tisch die Hände.
Ich musterte ihr Gesicht, das gealtert, aber nicht verfallen war,
die Falten eine Landkarte allen Gelächters und Kummers ihres
Lebens, und ich hatte das Gefühl, ich werde sie ewig
lieben.
    »›Bis alle Meere trocken fallen, mein Lieber, und
die Felsen schmelzen in der Sonne…‹«
    »Ach, hör auf, sonst melde ich dich noch als
senil.«
    Der Verkehr und der Lärm stockten. Ich blickte zu den
sich verlangsamenden Wagen hinüber und meinte, alle schauten
uns an. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass sie alle den
Fernseher anschauten. Der Kommentar und die lauten
Unterhaltungen, die plötzlich an die Stelle des Getöses
getreten waren, wurden auf Türkisch und Kurdisch
geführt. Das Fernsehbild aber brauchte nicht übersetzt
zu werden: ein deutscher Panzer und ein polnisches
Straßenschild.
     
    Berlin – das Vorkriegsberlin des einundzwanzigsten
Jahrhunderts, das alte Berlin – war die aufregendste Stadt
Europas. Der aus der Zeit der Wiedervereinigung herrührende
Bauboom war mittlerweile vorbei, doch die Wirtschaft und das
Nachtleben liefen noch immer auf hohen Touren. In gewisser Weise
bewegten sich zwei Hauptstädte in verschiedene Richtungen;
die eine erholte sich von ihrer nationalen Überheblichkeit,
die andere ließ von ihren imperialen Ansprüchen ab.
Die eine rüstete auf, wie sich jetzt herausstellte, die
andere ab…
    Im Moment gab es nur eine Person in Berlin, die mir am Herzen
lag: Eleanor, die

Weitere Kostenlose Bücher