Die Mars-Stadt
Stimme.
Der Soldat, der mich anleuchtete, hob das Gewehr und
rückte bedrohlich näher. Das Visier war hochgeklappt;
er war Südamerikaner und musterte mich teilnahmslos. Ich
musste an den Bauern auf dem Filmplakat denken. Irgendwann wendet
sich das Blatt…
»Jonathan Wilde«, sagte er. Es war keine Frage.
Ich schwieg. Ich hatte einen trockenen Mund.
»Kommen Sie mit«, sagte er.
Ich spürte, wie das Fenster in meinem Rücken
aufging.
»Nein!«, rief Annette.
»Doch«, sagte ich. »Fahrt! Fahrt
los!«
»Ja«, sagte der Soldat. »Fahren
Sie!«
Er winkte mich vom Wagen weg. Ich trat vorsichtig zwei
Schritte vor. »Es sind keine Waffen im Wagen«,
erklärte ich.
»Das wissen wir.« Er schwenkte das Gewehr von mir
weg und zielte auf den Wagen. Zum ersten Mal zeigte sich in
seinem Gesicht eine Emotion, etwas derart Ursprüngliches,
dass ich nicht erkennen konnte, ob es Angst war oder Wut.
»Fahrt!«, schrie ich.
Ich hörte Annettes trockenes Schluchzen, Eleanors Weinen,
Colins Schimpfen. Ich wagte nicht, mich umzudrehen oder auch nur
die Hände zu bewegen.
Der Motor wurde angelassen, und der Wagen fuhr langsam
davon.
Straßenlaternen und Nebel. Die Scheinwerfer landender
Flugzeuge und Nebel. Nacht und Nebel. Dies alles hatte noch nie
so schön ausgesehen. Ich blickte zu den Sternen hoch und
dachte, ich würde sie niemals erreichen, jetzt nicht mehr.
Ich konnte sie nicht sehen. Egal.
Ich wurde zu einem ein paar hundert Meter entfernten
Stück Brache geführt. Eigentlich war ich erleichtert,
als ich den schwarzen Helikopter sah, dessen matte, kantige
Oberfläche in der Dunkelheit von Kondensationsfeuchtigkeit
glänzte. Man verfrachtete mich an Bord und wies mich an,
mich mit Blick auf die offene Luke zu setzen, während der
Hubschrauber startete. Im Innern war es erstaunlich leise. Die
Soldaten musterten mich mit schweigender Bosheit und einem
schmutzigen Geheimniskrämerlächeln.
Ich fragte mich, weshalb ich mitgegangen war, wo ich doch
hätte weglaufen sollen. Anscheinend war ich für die
klassische amerikanische Exekution vorgemerkt, den Saigoner
Himmelssprung. Ich hätte weglaufen und ihnen die Genugtuung
vorenthalten sollen, dachte ich. Es gibt ein arabisches
Sprichwort, das ungefähr lautet: Die Hoffnung ist der
Freund der Freiheit oder Verzweiflung ist der Befreier des
Sklaven. Es erklärt eine Menge, unter anderem, weshalb
ich in den Helikopter geklettert war.
Ich glaube, ich brauche nicht zu beschreiben, was ich nach dem
Aussteigen tat.
»Treten Sie ein, Mr. Wilde.«
Die höfliche Aufforderung, ausgesprochen von einem
Dutzend Männern in Anzügen, die um einen Tisch herum
saßen, ging einher mit einem Stoß in den Rücken,
mit dem mich der UN-Soldat in den Raum beförderte und der
keinen Zweifel daran ließ, wer hier das Sagen hatte. Die
Tür hinter mir war zu schwer, um sie zuzuschlagen, doch sie
schloss sich mit einem gedämpften Rumms, ganz so, als
hätte es der Soldat zumindest versucht.
Ich straffte mich, sammelte die Reste meiner Würde und
blickte mich um. Irgendwo in Westminster – der Helikopter
war im St. James Park gelandet, anschließend hatte man mich
auf die Ladefläche eines gepanzerten Personentransporters
verfrachtet und ein kurzes Stück weit gefahren –, doch
es war nicht zu erkennen, ob es sich um ein privates oder
öffentliches Gebäude handelte. Ein großer
Mahagonitisch mit Lampen darauf, eichengetäfelte Wände,
im Halbdunkel verschwimmende Porträts erlauchter Ahnen oder
Vorgänger. Auch die Männer, die zu mir aufsahen, hatten
etwas von dieser ererbten oder erworbenen Selbstsicherheit,
obwohl sie noch schlampiger wirkten als ich: Ihre Jacketts waren
zerknittert oder hingen über den hohen Stuhllehnen, ihre
Krawatten waren gelockert, ihre Augen gerötet und ihre
Wangen unrasiert.
Der Tisch war mit laminierten Landkarten bedeckt, auf denen
man mit fluoreszierender Tinte Linien gezogen, ausgewischt und
neu gezogen hatte. Die Stifte lagen zwischen Kaffeetassen und
esstellergroßen überquellenden
Kristallglasaschenbechern verstreut. Der aufsteigende
Zigarettenqualm kräuselte sich durch die Lichtkegel und
wurde anschließend von der starken Klimaanlage aufgesaugt,
die eine klamme Kühle verbreitete.
Der Mann, der mich angesprochen hatte, erhob sich und zeigte
auf einen leeren Stuhl an der Tischecke. Davor stand eine frisch
gefüllte Tasse Kaffee.
»Guten Abend, Mr. Wilde«, sagte er. »Ich
möchte
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