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Die Marsfrau

Die Marsfrau

Titel: Die Marsfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kröger
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kleinen Gruppe,
bedacht, sich an den niedrigen Balken nicht die Köpfe zu
stoßen.
    Alina folgte aufmerksam den Ausführungen über die
Dekabristenbewegung im zaristischen Russland.
Gedankenversunken strich sie über die alten Möbel und
Musikinstrumente. Mit dem Begriff „Verbannung“ wusste sie
wie viele nichts Rechtes anzufangen. Sie hatten keine
Vorstellung mehr von den Unbilden, ausgehend von Natur und
Obrigkeit, die hier bis zum 21. Jahrhundert von den Menschen
ertragen werden mussten. Und danach dauerte es fast noch ein
Jahrhundert, bis sich Irkutsk – eigentlich schon immer eine
schöne Stadt des südlichen Mittelsibiriens – zur Perle des
Baikals entwickelte. Freilich, viele Baudenkmäler der Stadt
kündeten von früher, so das weiße Haus, heute Bibliothek,
oder die prächtige orthodoxe Kirche, die schwarzbraunen,
mehrstöckigen, mit Schnitzwerk reichlich verzierten hölzernen
Häuser, von Enthusiasten noch immer bewohnt – oder hier das
Verbannungsdomizil eines Dekabristenführers, ein musealer
Holzbau, gefügt aus sibirischer Lärche, dem Stolz der Taiga.
    Sylvester, sonst ebenfalls wissbegierig und
geschichtsinteressiert, kam von dem Gedanken nicht los, dass
etwas Entscheidendes eingetreten sein musste. Was sonst sollte
Marie veranlasst haben, ihn zurückzurufen, vorzeitig? Er
knobelte, wie er dieses dienstliche Ersuchen mit seinem
Vorhaben in Übereinstimmung bringen könnte. Die
Verabredung mit Conny Higgs, die er so lange vorbereitet
hatte, wollte er unter keinen Umständen versäumen.
Schließlich fuhren sie der Frau quer durch Sibirien nach. Und
dann, was konnte schon so Wichtiges geschehen sein, dass
seine, die Anwesenheit eines Neulings, notwendig wurde?
    Sylvester entschloss sich, erst am übernächsten Tag
zurückzufliegen, er also die ehemalig Institutsangehörige
Higgs noch aufsuchen würde.
    Hand in Hand gingen sie zu den Angaraterrassen. Und sie
hatten sich geeinigt: Alina würde noch einige Tage in Irkutsk
verweilen. Sie freute sich, dass Sylvester trotz des dringenden
Telegramms noch anderthalb Tage bleiben wollte. Und sie
beschlossen, sich noch einige schöne Stunden zu bereiten, mit
einem „Pfeil“ auf der Angara zum Baikal zu fahren und dort
am See zu übernachten.
    Und aus dieser gelösten Stimmung heraus weihte Sylvester
Alina ein, welcher Beweggrund ihn gerade zu dieser
Urlaubsroute geführt hatte.
    Alina hörte ihm aufmerksam zu, rief dann inbrünstig: „Du
Dussel!“ als er ihr sagte, weshalb er sie bislang nicht
informiert hatte, und sie zeigte sich sehr einverstanden, als er
sie einlud, ihn bei seinem Besuch zu begleiten.
    Es wurden Stunden, die man nicht vergisst, in denen alles,
was bedrücken könnte, so weit von einem steht, dass es von
keinem Gedanken mehr erreicht wird, Stunden, eingeteilt in
Augenblicke, von denen jeder einzelne für sich Genuss
bedeutet. Und sie gaben sich diesem Genuss hin. Sylvester
hatte den Eindruck, dass in dieser speziellen Situation ihr
„Dussel“ den vollen Einklang zwischen ihnen herbeigeführt
hatte, eine Übereinstimmung, wie sie inniger nicht denkbar
schien. Sie freuten sich gemeinsam über Belangloses, über das
duftende Birkengrün, das zerbrechliche Filigran der mächtigen
Lärchen, das glasklare Wasser der Angara, deren Wellen ein
irres, tanzendes Mosaik des Uferkieses entstehen ließen, über
das Fische huschten.
    Sie waren überwältigt von der Einfahrt in den See, dem
Panorama der Steilufer, dieser urwüchsigen Hügel, deren Grün
nur selten unterbrochen wurde von einzelnen Giebeln und
Dächern der Sanatorien und Erholungsstätten. Der durch
Jahrhunderte besungene herrliche Baikal hatte als Perle
sibirischer Landschaft das Zeitalter der versachlichenden
Industrialisierung überdauert. Naturliebe und Standhaftigkeit
der Sibiriaken hatten dafür gesorgt, dass es ein herrlicher
Baikal geblieben war.
    Sylvester erinnerte sich Kosakenchören, deren Lieder in
vielen Strophen die Schönheit dieses sibirischen Meeres
priesen. Natürlich war ihm das gewaltige Ausmaß des Sees
bekannt, dass sein Eis Eisenbahnzüge trug, das Wasser klar
und sehr wohl trinkbar sein sollte.
    Als Sylvester nun zum ersten Mal den Baikal erblickte,
wurde ihm klar, dass es ihm damals erging wie jenem
Maulwurf, der dem Adler zwar glaubt, dass Fliegen etwas
Wunderbares sei, selbst aber außer Stande ist, es jemals
nachzuempfinden.
    Während er nun an diesem seidenweichen Frühsommertag
am Ufer des Baikals stand, dort, wo den See – wie die

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