Die Masken des Morpheus
zwischen den Kirchenbänken entlangeilte. Er durchquerte die Vierung, wo sich das kurze Querhaus mit dem Langschiff kreuzte, und erreichte den Aufgang zum Turm. Mit langen Schritten, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppe hinauf. Sie endete unter einer aufgeklappten Luke.
Atemlos stieg er auf die offene Plattform aus unbehandeltem Holz. Sie maß knapp zehn Fuß im Quadrat. Es gab nur ein behelfsmäßiges Geländer aus vier Pfosten und jeweils einer daran festgenagelten Latte.
Der Flügeltelegraf war eine seltsame Apparatur aus einem Mast sowie schwenk- und drehbaren Streben, Kurbeln, Rollen und Seilen. Er schien schon einsatzbereit zu sein. Auf einer Art Kartentisch lagen Schreibpapier, Zeichnungen, ein aufgeschlagenes Notizbuch und andere Utensilien, teilweise mit Kieselsteinen beschwert, damit der lebhafte Wind sie nicht wegwehen konnte. Vor dem luftigen Arbeitsplatz stand ein ungefähr dreißigjähriger Mann mit halblangem blondem Haar und angespannter Miene. Ohne das geringste Lächeln begrüßte er den Besucher.
»Ich habe Sie erwartet, Monsieur … ?«
»Tarin«, sagte selbiger, wobei er seinen Namen bewusst französisch aussprach. »Einen schönen guten Morgen. Und Sie sind?«
»Chappe. Claude Chappe«, antwortete der Gefragte. Er war nicht gerade ein Ausbund von Freundlichkeit.
»Der Erfinder des Schnellschreibers höchstpersönlich?«
»So ist es. Die Telegrafenlinie nach Lille befindet sich noch im Aufbau. Deshalb bin ich oft selbst zugegen, um die Berichte über den Arbeitsfortschritt von den anderen Stationen zu empfangen und neue Anweisungen zu geben. Mir wurde gestern unmissverständlich mitgeteilt, dass Sie heute eine dringende Botschaft nach Compiègne verschicken müssen.«
»Richtig. Sie ist sehr kurz. Haben Sie etwas zu schreiben?«
Chappe zog einen Bogen unter dem Stein hervor und wies auf Tintenfass und Feder.
Tarin zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an den Tisch. Sein Blick fiel auf das aufgeschlagene Notizbuch neben den Schreibutensilien. Darin waren seltsame Zeichen, Buchstaben und Ziffern aufgelistet. Vermutlich ein Code. Er deutete darauf. »Sieht fast aus wie Runen.«
»Das sind nur die unterschiedlichen Stellungen der Telegrafenflügel, das sogenannte Winkeralphabet. Nach diesem Schema wandeln wir Buchstaben, Worte und teilweise ganze Sätze für unsere geflügelten Nachrichten um.« Chappe nahm das Buch an sich und klappte es zu. Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. »Wie kann ich Ihnen dienen, Monsieur?«, fragte er ungeduldig.
Tarin kritzelte die Botschaft aufs Blatt:
M. ist tot. Befreit T.
Als Chappe die Mitteilung las, wurde er schlagartig blass.
»Irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte Tarin. Das Verhalten des Technikers kam ihm seltsam vor.
»Ich … bin nur erschrocken«, antwortete Chappe zögernd. »Wer übermittelt schon gerne Nachrichten vom Tod? Dieser Monsieur M. – darf ich fragen, um wen es sich dabei handelt?«
»Nein. Das braucht Sie nicht zu interessieren. Meines Wissens hat Ihre Auftraggeberin Ihnen genug Geld gegeben, um sich über solche Nebensächlichkeiten nicht den Kopf zu zerbrechen. Und nun beeilen Sie sich bitte, Monsieur Chappe. Die Botschaft ist von höchster Dringlichkeit.«
Der Techniker nahm das Blatt aus Tarins Hand und ging zu dem Pfosten mit den Rädern und Seilzügen. Mithilfe der Kurbeln stellte er den großen Querarm waagerecht. Der drehbare Balken an dessen linkem Ende deutete im rechten Winkel nach oben, der gegenüberliegende nach unten.
Tarin war nicht dumm. Nicht viele vermochten sich mit seiner schnellen Auffassungsgabe zu messen. Ein kurzer Blick in das Notizbuch mit dem Winkeralphabet hatte ihm genügt, um sich die Gestalt der vielleicht wichtigsten beiden Buchstaben seiner Nachricht einzuprägen. Chappe begann mit einem T wie in dem französischen Wort trahison – »Verrat«. Das M, der Anfangsbuchstabe der eigentlichen Mitteilung, hätte ganz anders ausgesehen.
»Ich habe meine Botschaft aufgeschrieben, damit Sie sie buchstabengetreu übermitteln«, sagte Tarin in beiläufigem Ton. Er war an den Rand der Plattform getreten und blickte nach Paris hinab, so als interessiere er sich mehr für die Aussicht als für die Arbeit des Erfinders.
»Das müssen Sie schon mir überlassen, Monsieur«, erwiderte Chappe gereizt.
Tarin schloss die Augen. Morpheus’ Arm reichte sogar bis hierhin. Irgendwie musste es dem Fürsten gelungen sein, von dem Plan zu erfahren und aus einem Geistlichen
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