Die Maya-Midgard-Mission
Schädel von bestatteten Türwächtern eine Tätowierung aufwiesen, war ihr neu. Dass diese Tätowierung identisch mit den Glyphen auf dem Türsturz war, machte die Sache noch geheimnisvoller. Um die Spannung weiter zu vergrößern, handelte es sich bei den Glyphen und der Tätowierung um eine Anordnung von Zeichen, die der Archäologin beim Studium der Geschichte der Maya und ihrer Kultur nur einmal zuvor begegnet waren.
Wieder einmal war Daria an einem Zielpunkt, wenn auch nicht unb edingt am angestrebten. Und wieder einmal war das Ziel keine Antwort, sondern eine Anhäufung neuer Fragen.
Sie musterte den Türsturz und ging dann erneut zum Standbild des Computers. Es zeigte eine in die Breite gezogene, spir alige Anordnung von Linien, die sich ineinander und umeinander verwoben, beinahe wie ein Spinnennetz. "Eine stilisierte Sonne", sagte Daria leise zu sich selbst. Aber das Bild war ihr zu unruhig, um einen Sinn zu ergeben. Zwar war die in Stein, Knochen oder Muschel geritzte Bildsprache der Maya äußerst blumig und geschnörkelt, andererseits aber stellte sie in nahezu allen Bereichen ihrer Anwendung eine Kombination von dinglichen Gegenständen, Lebewesen oder Pflanzen aus der direkten Erlebniswelt der Maya dar, die dann in Zusammenhang mit der dargestellten Szene auch eine spirituelle Bedeutung annehmen konnte. Eine Jadeperle war zum einen ein gebräuchliches Zahlungsmittel, legte man sie jedoch einem geliebten Verstorbenen in den Mund, so verlieh sie ihm die Kraft für die Reise nach Xibalba , ins Reich der Götter und Ahnen. Die Dinge an sich hatten meist keine zwingende Bedeutung, obwohl sie ausnahmslos beseelt und sinnerfüllt waren. Sinn und Bedeutung gewann alles Materielle aus seiner Verwendung im Alltag. Und diese Verwobenheit von Inhalt, Ausdruck und Bedeutung gaben die Maya in ihrer Architektur, in ihrer Religion, in ihrer Auffassung von Mathematik, Astronomie und eben in der Sprache und Schrift wieder.
Doch Darias theoretisches Wissen über die Sprache der Maya brachte sie hier nicht voran. Zu abstrakt schienen ihr diese Zeichen. Oder zu konkret: Eine Spirale ist eine Spirale ist eine Spirale... Bleibt eine Spir ale! Sie versuchte es mit ausschnittweisen Vergrößerungen und Verkleinerungen und schüttelte resigniert den Kopf.
Die elektronischen M öglichkeiten ihrer Arbeitsgeräte brachten sie schließlich auf einen Gedanken, den sie weiterverfolgte. Ein erneuter Blick auf den Türsturz, ein Fingerschnippen, einige schnelle Mausklicks und aus den Linien auf dem Schirm wurden Punkte. Hunderte von Punkten. Tausende. Daria wusste, dass jedes elektronische Bild aus Punkten zusammengesetzt wird. Aber die Punkttechnik war trotzdem keine Errungenschaft des elektronischen Zeitalters, sondern eine uralte Darstellungsform der Menschen. Sie dachte an einen Tempel auf der Insel Malta, den sie vor Jahren auf ihrer Hochzeitsreise durch die südlichen Mittelmeerländer besucht hatte. Dieses Zeugnis einer Jahrtausende alten matriarchalisch geprägten Gesellschaft war mit Punkten übersät, wie ein krankes Kind mit Windpocken. Und dieses Bild brachte sie auf eine neue Idee. Daria machte sich ein paar hastige Notizen, um die Essenz dieser neuen Idee nicht zu verlieren. Sie wusste, dass diese intuitive Vorgehensweise ebenso wichtig wie typisch für ihren Erfolg war. Dann betrachtete sie konzentriert das neue Punktbild.
Einige dieser Punkte formten 16 Figuren unterschiedlicher Größe und Umrisse, die sich um eine zentrale, beinahe kreisförmige Fläche herum zu gruppieren schienen. Die Formation endete in einer Art Wurmfor tsatz, der aus drei Teilen und einem i-Punkt bestand. Das gepunktete Bild war viel klarer als das ursprüngliche aus Linien, einen Sinn konnte Daria jedoch hinter beiden noch nicht erkennen.
Sie blätterte durch ihre Dateien und ließ den Computer die bekannte sten Maya-Glyphen mit der Spirale aus Punkten vergleichen. Ohne Ergebnis. Dann wählte sie eine Serie von Herrscheremblemen als Vergleichsgruppe. Wieder nichts. Nachdenklich überflog sie ihre Notizen, studierte die Auswahl der Vergleichsgruppen erneut und entschied sich für das Stichwort "Zyklenbenennungen". Nichts! Schließlich versuchte sie das bewährte Mittel des 'Brainstorming': "Bild, Punkte, Ort oder Zeit, Matriarchat, Malta, Mittelmeer, Malta, Ort, Insel, Insel-Bild, Insel-Punkt, Punkt-Insel, Punkt im Meer, Punkte im Meer..."
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12 DER DON QUICHOTTE DER MEERE
SPANIEN, GRANADA, ALHAMBRA, 19. März 1500
Der
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