Die Mayfair-Hexen
Wirkung der Evangelien selbst zu begreifen, müssen Sie sich daran erinnern, wie sehr sie sich von jeglicher Literatur unterschieden, die es bis dahin gegeben hatte. Die Thora der Hebräer will ich dabei nicht einschließen, denn ich kannte sie nicht; aber auch von ihr unterscheiden sich die Evangelien.
Sie waren anders als alles! Zunächst einmal betrafen sie nur diesen einen Mann, Jesus, und wie er Liebe und Frieden gepredigt hatte und verfolgt, gejagt, gefoltert und gekreuzigt worden war. Eine erschütternde Geschichte! Und es war ein demütiger Mann gewesen, mit äußerst dürftigen Verbindungen zu den alten Königen; soviel lag auf der Hand. Im Gegensatz zu jedem anderen Gott, von dem mir je zu Ohren gekommen war, hatte dieser Jesus seinen Anhängern alles mögliche erzählt, und sie hatten die Aufgabe gehabt, alles niederzuschreiben und es die Völker zu lehren.
Die Wiedergeburt im Geiste, das war die Essenz dieser Religion. Einfach zu werden, demütig, bescheiden, liebevoll, darauf kam es an. Jetzt treten Sie für einen Augenblick zurück und betrachten Sie das ganze Bild. Nicht nur dieser Gott war erstaunlich, nicht nur diese Geschichte; die ganze Frage der Beziehung zwischen Erzählung und Schrift war erstaunlich.
Wie Sie an meiner Geschichte erkennen, hatten wir mit unseren barbarischen Nachbarn eines gemeinsam: Wir mißtrauten dem Schreiben. Das Gedächtnis war uns heilig, und wir fanden, das Niederschreiben sei nicht gut dafür; wir konnten lesen und schreiben, aber wir mißtrauten der Sache. Und hier war dieser bescheidene Gott, der aus dem heiligen Buch der Hebräer zitierte und sich mit den zahllosen Prophezeiungen bezüglich eines Messias in Verbindung brachte und der dann seine Jünger beauftragte, über ihn zu schreiben.
Aber lange bevor ich das letzte Evangelium zu Ende gelesen hatte, da liebte ich diesen Jesus schon um der seltsamen Dinge willen, die er gesagt hatte, und auch wegen der Art, wie er sich selbst widersprach, und wegen seiner Geduld mit denen, die ihn ermordeten. Und was seine Auferstehung anging, so war meine erste Schlußfolgerung die, daß er genauso langlebig sein müsse wie wir – die Taltos. Und daß er seine Jünger hinters Licht geführt haben müsse, weil sie bloße Menschen waren.
Wir mußten solche Täuschungsmanöver ständig vollführen und eine andere Identität annehmen, wenn wir mit unseren menschlichen Nachbarn sprachen, um sie zu verwirren, damit sie nicht merkten, daß wir schon seit Jahrhunderten lebten.
Aber bald wurde mir durch Ninians eifrige Unterweisung klar – und er war ein frohsinniger, ekstatischer Mönch -, daß Christas tatsächlich von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren war.
Gleichsam in einem mystischen Aufblitzen sah ich das ganze Bild vor mir – diesen Gott der Liebe, gemartert um der Liebe willen, und auch die radikale Natur seiner Botschaft. Auf irrsinnige Weise packte mich die Sache, weil sie so absolut unglaublich war. Ja, die ganze Kombination der einzelnen Elemente war schwer faßlich und lachhaft.
Und noch eine Sache: Alle Christen glaubten, daß das Ende der Welt nahe sei. Und anscheinend – dies ging nach und nach aus meinen Gesprächen mit Ninian hervor – glaubten sie dies schon immer! Aber die Vorbereitung auf dieses Ende der Welt war auch die Essenz dieser Religion. Und der Umstand, daß die Welt bisher noch nicht untergegangen war, entmutigte keinen von ihnen.
Ninian erzählte wie im Fieber vom Wachstum der Kirche seit der Zeit Christi, etwa fünfhundert Jahre zuvor, und er berichtete, wie Joseph von Arimathaia, sein lieber Freund, und Maria Magdalena, die ihm die Füße gewaschen und sie mit ihren eigenen Haaren getrocknet hatte, in den Süden Englands gekommen waren und auf einem heiligen Hügel in Somerset eine Kirche gegründet hatten. Der Kelch von Christi letztem Abendmahl war dorthin gebracht worden, und tatsächlich entsprang ihm das ganze Jahr über blutrot ein großartiger Quell, hervorgerufen durch die magische Wirkung des Blutes Christi, das hineingegossen worden war. Und der Stab Josephs, den er am Wearyall Hill in den Boden gesteckt hatte, war zu einem Weißdorn herangewachsen, der niemals aufhörte zu blühen.
Sofort wollte ich dorthin, um den heiligen Ort zu sehen, wo die Jünger unseres Herrn den Fuß auf unsere Insel gesetzt hatten.
»Oh, aber bitte, mein gutherziger Ashlar!« rief Ninian. »Du hast versprochen, mich heim zu meinem Kloster nach Iona zu bringen.«
Der Abt, Pater
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