Die Mayfair-Hexen
sich auf dem Pflaster. Ausgerechnet jetzt, dachte er, aber rasch lächelte er, beugte das Knie und half der armen Frau, alles wieder aufzuheben. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte er.
Es war eine ältere Frau, die ihn jetzt fröhlich anlachte und ihm sagte, er sei doch zu groß, um sich so tief zu bücken.
»Das macht mir nichts. Es war ja meine Schuld.« Er zuckte die Achseln. Er war den Hexen vielleicht schon so nah, daß sie ihn hören konnten; er durfte keine Angst zeigen.
Die Frau trug eine große Segeltuchtasche über dem Arm. Endlich hatte er all die kleinen Päckchen aufgesammelt und in die Segeltuchtasche gesteckt. Als sie wegging, winkte sie ihm zu, und er winkte herzlich und respektvoll zurück.
Die Hexen hatten sich nicht bewegt. Das wußte er. Er fühlte, daß sie ihn beobachteten. Er spürte dieselbe Kraft, die für seine Augen auch jenen Schimmer hervorbrachte, dieselbe Energie vielleicht – er wußte es nicht. Höchstens fünf, sechs Schritte trennten sie jetzt noch.
Er drehte den Kopf und sah sie an. Er hatte dem Straßenverkehr den Rücken zugewandt und sah sie deutlich vor dem Schaufenster voller Kleider stehen. Wie furchterregend sie beide aussahen. Das Licht, das von Rowan ausging, war in seinen Augen zu einer kaum merklichen Glut geworden, und jetzt roch er sie auch – blutlos. Eine Hexe, die nicht gebären konnte. Der Geruch des Mannes war stark, und sein Gesicht war schrecklicher: erfüllt von Mißtrauen und vielleicht sogar Zorn.
Es ließ ihn frieren, wie sie ihn ansahen. Aber nicht jeder kann dich lieben, dachte er mit feinem Lächeln. Nicht einmal alle Hexen können dich lieben. Das wäre viel zuviel verlangt. Wichtig war, daß sie nicht weggelaufen waren.
Wieder fing er an, auf sie zuzugehen. Aber Rowan Mayfair verblüffte ihn. Sie hielt die Hand dicht vor der Brust und deutete mit dem Zeigefinger auf die andere Straßenseite.
Vielleicht ist das ein Trick. Sie wollen mich umbringen, dachte er. Der Gedanke amüsierte ihn, aber nur zum Teil. Er schaute in die Richtung, in die sie zeigte. Auf der anderen Straßenseite war ein Coffeeshop. Und eben kam der Zigeuner mit einem alten Mann an seiner Seite heraus. Yuri sah krank aus, schlimmer denn je, und Jeans und Hemd, bunt zusammengewürfelt, waren viel zu dünn für die kalte Luft.
Yuri erblickte Ash sofort. Er trat aus dem Gedränge des Eingangs beiseite und starrte Ash wie ein Verrückter an – so sah es wenigstens aus. Die arme Seele, er hat den Verstand verloren, dachte Ash, wahrhaftig. Der alte Mann redete sehr eindringlich auf Yuri ein und schien gar nicht zu merken, daß Yuri woanders hin schaute.
Dieser alte Mann. Das mußte Stuart Gordon sein! Er trug die düstere, altmodische Kleidung der Talamasca: Budapester Schuhe und sehr schmale Revers, und eine Weste, die zum Jackett paßte. Beinahe kostbar. Ja, das war sicher Gordon – oder jemand anderes von der Talamasca. Ein Irrtum war ausgeschlossen.
Wie flehentlich redete Gordon auf Yuri ein, wie entsetzt sah er aus. Und Yuri stand keine Armlänge weit von ihm entfernt. Dieser Mann konnte Yuri jeden Augenblick umbringen, auf ein halbes Dutzend verschiedene unauffällige Arten.
Ash trat auf die Straße hinaus, wich einem Auto aus, zwang ein anderes zu jähem, kreischendem Bremsen.
Plötzlich merkte Stuart Gordon, daß Yuri abgelenkt war. Er reagierte verärgert. Er wollte sehen, was Yuri ablenkte, und drehte sich im selben Moment um, als Ash vom Randstein her auf sie zustürzte und die Hand nach Gordons Arm ausstreckte.
Gordon erkannte ihn ohne Zweifel. Er weiß, was ich bin, dachte Ash enttäuscht: Dieser Mann, dieser Freund von Aaron Lightner, ist schuldig. Ja, keine Frage: Der Mann kannte ihn; er starrte ihm ins Gesicht mit einer Mischung aus Grauen und einem tiefen, verstohlenen Erkennen. »Sie kennen mich«, sagte Ash.
»Sie haben unseren Generaloberen ermordet«, sagte der Mann, aber es war die reine Verzweiflung, die ihn darauf verfallen ließ. Die Verwirrung, das Erkennen – das alles ging weit über das hinaus, was erst letzte Nacht passiert war. Gordon geriet in Panik, und seine Finger krallten sich in Ashs Hand an seinem Arm. »Yuri, halte ihn fest, halte ihn auf.«
»Lügner«, sagte Ash. »Schauen Sie mich an. Sie wissen genau, was ich bin. Sie wissen Bescheid über mich. Ich weiß es. Lügen Sie mich nicht an, schuldiger Mann.«
Sie erregten Aufsehen. Die Leute wichen auf die Straße aus, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Andere waren stehen geblieben,
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