Die Medizinfrau
in die sterile und laute Welt ihrer wirklichen Existenz.
Sie ritten schweigend dahin, und Olivia beobachtete, wie entspannt Danaher wirkte – in dieser Einsamkeit, ohne eine Menschenseele weit und breit. »Sind Sie in New York aufgewachsen?« fragte sie unvermittelt.
»Mit neun kam ich nach New York. Vorher war ich in Irland.«
»Und in den Westen zogen sie mit einem Engländer?«
»Genau.«
»Wer hat Ihnen beigebracht, sich in der Wildnis zurechtzufinden – Lagerfeuer im Schneesturm zu machen, ein Zelt zu bauen, zur Jagd zu gehen, unerfahrene Mädchen aus der Großstadt durch Schneestürme zu führen?«
Sein Lächeln erstaunte sie. Wenn sie bisher allzu persönliche Fragen stellte, hatte er einsilbig und mit verschlossener Miene geantwortet. Vielleicht spürte auch er diese seltsame Nähe, die in der wilden, unberührten Landschaft zwischen ihnen zu entstehen schien.
»Manche Dinge lernt man einfach, weil man sie zum Überleben braucht. Und für andere hat man glücklicherweise Lehrer. Nachdem Avery gestorben war, lebte ich eineinhalb Jahre im Norden von Montana bei den Schwarzfußindianern. Damals habe ich die Mutter der Zwillinge geheiratet, Frau der vielen Pferde.«
Eine Weile schien er seinen Gedanken nachzuhängen. Dann fuhr er fort:
»Die Indianer leben mit der Natur, nicht getrennt von ihr. Sie beherrschen viele nützliche Dinge meisterhaft – Spurenlesen, Jagen, Überleben. Ein alter Krieger namens Großer Mann war der beste Schütze, der mir je begegnet ist. Bevor er mir das Schießen beibrachte, verfehlte ich eine Scheunenwand auf zehn Meter.«
»Haben Sie mit dem Bergbau begonnen, nachdem Sie die Schwarzfußindianer verlassen haben?«
»Nein. Minnie und ich kauften eine Ranch in der Nähe von Virginia City. Das Land war billig, und die Schwarzfußindianer hatten mir ein bißchen was über Pferde beigebracht.« Er lächelte etwas kläglich. »Im Umgang mit den Rindern mußte ich noch allerhand lernen. Die ersten zwei Jahre habe ich viel falsch gemacht, aber schließlich hatte ich den Dreh raus. Es ging uns ganz gut, wir verkauften Pferde und Rinder hauptsächlich an die Armee.«
»Und warum arbeiten Sie jetzt in dieser gottverlassenen Mine?«
Eine hochgezogene Augenbraue gab ihr zu verstehen, daß sie sich zu weit vorgewagt hatte. »Wie ist das mit Ihnen, Doc? Wie kamen Sie dazu, Leute mit Bauchschmerzen zu behandeln und gebrochene Knochen wieder einzurichten?«
»Um eine gute Ärztin zu sein, muß man noch sehr viel mehr können, Mr. Danaher.«
Er grinste. »Die meisten Quacksalber, die ich kenne, bringen einen eher ins Grab, als daß sie einen kurieren. Aber als die Mädchen krank waren, hätte ich alles getan, um einen Arzt zu finden. Eine Ärztin hatte ich allerdings nicht erwartet.«
»Weibliche Ärzte sind gar nicht so selten. Vor vierzig Jahren erhielt die erste Frau in diesem Land ihren Doktortitel – Elizabeth Blackwell am Geneva College in New York. Seither haben hunderte Frauen Medizin studiert. Auch im Westen gibt es berühmte Ärztinnen.«
»Warum ausgerechnet Sie?«
»Wie bitte?«
»Sie sind eine gute Frau. Man müßte meinen, irgendwann hätte ein Mann Sie sich geschnappt.«
»Ich habe nicht Medizin studiert, weil ich keinen Mann finden konnte. Ich wurde Ärztin, weil ich diesen Beruf ergreifen wollte, seit ich zwölf war. Damals behandelte eine Ärztin, Mary Putnam, meine Mutter nach einer sehr komplizierten Fehlgeburt und rettete ihr das Leben. Mary ist die tüchtigste Ärztin, die ich kennengelernt habe, gleichzeitig voller Mitgefühl für das Leid und die Ängste der Menschen. Seit dieser Zeit stand für mich fest: Ich werde Ärztin.«
»Hat Ihre Familie Sie nicht für verrückt erklärt?«
Olivia verzog das Gesicht in der Erinnerung an den Heiterkeitsausbruch ihres Vaters, als sie ihm ihren Wunsch eröffnete.
»Anfangs ja. Aber die Erfahrung mit Dr. Putnam – jetzt ist sie verheiratet und heißt Dr. Jacobi – machte meine Familie einsichtiger. Mein Vater ist ein gescheiter Mann. Als er endlich meinen Wunsch billigte, Medizin zu studieren, unterstützte er mich von ganzem Herzen. Nach meinem Abschluß an der Cornell Universität gab er ein großes Fest für mich. Halb New York war dazu eingeladen. Dann finanzierte er mein Studium in Paris an der École de Medicine; dort bekam ich auch eine Stelle als Assistenzärztin. Leider sind an vielen amerikanischen Kliniken immer noch keine Frauen zugelassen.«
»Nie daran gedacht, zu heiraten und Kinder zu
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