Die Meister der Am'churi (German Edition)
Abgrund, in dem nichts als Finsternis zu lauern schien – wenn er es nicht besser gewusst hätte.
„Bist du bereit?“, fragte Ilanrin.
„Nein, aber das werde ich wohl auch niemals sein.“
„Denk daran, du musst wenigstens fünfzehn Tage durchhalten, zwanzig wären besser.“
„Ich werde tun, was ich kann.“
„Leb wohl, Ni’yo. Der Segen und alle guten Wünsche der Schattenelfen werden dich begleiten.“
Ni’yo hatte sich bereits auf den Knien niedergelassen, um sich über die Felskante zu schwingen, doch nun fuhr er noch einmal hoch und zischte: „Behaltet ihn für euch, euren Segen, ich will ihn nicht! Dass ich dich nicht längst getötet habe für all das, was du mir und meiner Familie angetan hast, verdankst du Am’churs Sinn für Ehre und Recht, nicht dem meinen.“
Ilanrin hatte ihm viel über Charur erzählt, über die wahre Natur der Götter, den Krieg – und über die Umstände, unter denen Ni’yo und Lynea gezeugt worden waren. Das vollständige Ausmaß der Entehrung seiner Eltern … Ni’yos Körper fühlte sich zu klein und zu schwach an, um so viel Hass bergen zu können.
Der alte Elf musterte ihn unbewegt.
„Ohne uns hättest du nie eine Familie gehabt, Ni’yo.“
„Und du glaubst, nur weil du entschieden hast, dass meine Eltern zusammenkommen mussten, hast du auch das Recht mein Leben zu beenden, wann du es willst?“
„Ja.“
Ni’yo packte ihn am Kragen und schleuderte ihn mit so viel Gewalt gegen die Felswand, dass Ilanrin hustend gekrümmt zu Boden sackte.
„Glaub, was du willst, Kalesh. Ich weiß, dass ich dich jederzeit töten kann, während du mich lebendig brauchst.“
„Sei kein Narr! Du solltest mir keine Feindschaft schwören, solange du noch jemanden da draußen hast, den du nicht verlieren willst. Außerdem ist es möglich, dass du lebendig zurückkehrst.“ Ilanrin setzte sich auf, Hass und Wut kämpften in seinem Gesicht gegen die sonst übliche Gelassenheit.
„Wenn du Jivvin oder Lynea anrührst, dann bete zu Kalesh, dass ich unten bleibe!“, grollte Ni’yo. Es spürte, dass er kurz davor stand sich zu verwandeln, was ihn so sehr verwirrte, dass er sich abrupt von Ilanrin abwandte und den Abstieg in den Hort der Drachen begann. Ohne Am’chur sollte eine Verwandlung für ihn völlig unmöglich sein! Und doch, er hatte gehört, wie seine Stimme eine Oktave tiefer gesackt war, wie heißer Zorn in ihm nach Blut und Rache schrie, wie seine Finger- und Kiefergelenke bereits zu kribbeln begonnen hatten.
Wahrscheinlich Einbildung. Mein Körper ist daran gewöhnt, auf Wut so zu reagieren …
„Ni’yo!“, hallte Ilanrins Stimme von oben herab. „Es bringt Unglück, sich nicht in Frieden zu verabschieden, und das können weder du noch wir uns leisten. Nicht jetzt!“
Ungläubig starrte Ni’yo nach oben, wo er in fünf, sechs Schritt Entfernung Ilanrins weißes Haar ausmachen konnte. Seltsam, wie stark die Finsternis hier war … Als wäre die Dunkelheit ein lebendiges Wesen. Ein Raubtier, bereit, alles zu verschlingen.
„Ni’yo!“ Die Stimme des Elfen klang tatsächlich besorgt.
„So abergläubisch?“, spottete Ni’yo. „Also gut, damit du mich in Frieden weiter in meinen Untergang ziehen lässt: Leb wohl, Ilanrin, Ältester der Schattenelfen. Möge Kalesh dein Volk segnen.“
Mit einer Pause, die gerade lang genug war, um deutlich zu werden, setzte er nach: „Und möge Am’chur mich hindern, dir die Eingeweide herauszureißen, sollte ich wiederkehren.“
Mit diesen Worten kletterte Ni’yo weiter in die Tiefe, fühlte dabei blind die Spalten und Vorsprünge im Fels, die seinen tastenden Fingern Halt schenkten. Die ganze Zeit über wartete er, dass sein Körper irgendwann erschöpfte, jetzt, wo er Am’churs Kraft nicht mehr in sich trug. Doch das Erbe der Elfen, gleichgültig, wie sehr er es verfluchte, ließ ihn unermüdlich weiter klettern, gewandt wie eine Bergkatze. Die völlige Finsternis hätte ihn lähmen, ihm Angst und Unsicherheit aufzwingen müssen; stattdessen fühlte er fühlte sich stark in ihr.
„Ich bin, der ich durch meine Taten bestimme zu sein, nicht, was meine Ahnen in mich gelegt haben!“, knurrte er trotzig. Das klang gut genug, um ihn stetig weiter hinab zu treiben, bis er ein Flimmern unter sich sah. Das Portal, er hatte es erreicht. Probehalber ließ er einen Fuß hineinhängen. Es prickelte leicht auf der Haut, auf Widerstand traf er hingegen nicht. Allerdings auch auf keinen Fels, der ihm jenseits der
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