Die Meister der Am'churi (German Edition)
entfachen, dafür muss kein Feuer aus Wolken und keine Sterne von oben herab regnen! Ich wusste, dass Jivvin dich nicht verlassen wollte, ich hätte dein Gebet also überhören können, wie so viele Bitten anderer zuvor. Götter, selbst die geringsten von ihnen, dürfen nicht leichtherzig in das Leben eingreifen. Wir würden es zerstören, nicht bewahren.
Deine Worte waren: Wenn du Glück zu geben hast, lass ihn zu mir zurückfinden. Und nun höre meine Antwort:
WENN DER EINE ALLES AUFGIBT, WOFÜR ER EIN LEBEN LANG KÄMPFTE, UND DER ANDERE NICHT AUFGEBEN KANN, WAS ER ALS EINZIGES IM LEBEN BESITZEN WILL, DANN SCHENKE ICH, HARLA, BEIDEN EINEN HERZSCHLAG KLARHEIT ZU ERKENNEN, WELCHE WAHL IHNEN GEBLIEBEN IST, UND SIE KÖNNEN FREI ÜBER IHR SCHICKSAL ENTSCHEIDEN.
Das Licht ihrer Drachenmacht erlosch. Zurück blieb eine schwache Göttin in einem menschlichen Leib, der vor Ni’yos Augen regelrecht zu verfallen schien, so bleich war sie.
„Ich habe kein Glück zu geben, Ni’yo. Ich führe Verirrte zurück auf ihren Weg, dies ist der Aspekt, den die Mächtigen mir zugestehen wollten.“ Ein düsteres Lächeln schlich sich in ihre ausgezehrten Züge. „Dein Gebet wurde erhört. Es wird mich viel kosten, dieses Wunder zu wirken, vielleicht sogar meine Existenz. Also nutze meine Gabe weise! Ein einzelner Moment der Klarheit, wenn Finsternis und Wahnsinn herrschen, mag der Funke werden, der die Pläne der Alten in Brand setzt.“
Sie legte eine Hand auf Ni’yos Stirn und schloss die Lider. „Schlaf jetzt, du musst nicht miterleben, wie ich deine Knochen richte, auch, wenn du diese Qual ertragen könntest. Sei gewiss: Ich bin an dein Schicksal gebunden. Wenn du mich rufst, werde ich kommen, daran kann weder Charurs Wahnsinn noch der Verlust eines kleinen Stückchen Holzes etwas ändern.“
Bleierne Müdigkeit legte sich über Ni’yo, er begrüßte den Schlaf. Kurz bevor er davon glitt, spürte er eine leichte Berührung an den Lippen und öffnete mühevoll die Augen. Harla hatte sich über ihn gebeugt und lächelte beruhigend. „Ich habe nie verstanden, warum Sterbliche das so gerne tun, dieses Küssen. Ich verstehe es immer noch nicht, es ist mir wohl nicht gegeben.“
Sinnlose Gedanken huschten durch sein Bewusstsein, ohne Zusammenhang oder Bedeutung. Er wollte ihr sagen, wie viel Nähe und Wärme ein Kuss bedeuten konnte, stattdessen aber murmelte er schlaftrunken: „Warum hast du menschliche Gestalt, wenn du nicht menschlich fühlst?“
Harla lächelte. Wie hartnäckig dieser Mann doch war! „Jedes Lebewesen, gleich ob Dornbusch, Insekt, Elf oder Drache oder Gott, braucht eine Aufgabe. Einen Grund für sein Dasein, und sei es nur der Erhalt seiner Art. Andernfalls geht es zugrunde. Darum musste Kalesh seine Macht mit uns teilen, auch wenn er es nicht wollte. Ich habe die Aufgabe, für verirrte Sterbliche zu sorgen. Sie sind eher bereit, dies zuzulassen, wenn ich aussehe wie eine von ihnen.“ Harla strich ihm über das Gesicht und zwang ihn, die Lider zu schließen. „Ich bin stolz auf diese Aufgabe, Ni’yo. Stolz, für dich in diesen Stunden da sein zu können.“ Der junge Mensch blinzelte, versuchte noch etwas zu sagen, aber nun versank er in das dunkle Vergessen des Schlafes hinab.
„Hör nicht auf zu kämpfen, Ni’yo. Nicht jetzt. Gib uns allen Hoffnung!“, wisperte sie und brach ihm erneut den Arm, der bereits begonnen hatte, schief zu verheilen. Er stöhnte vor Schmerz, wurde allerdings nicht wach. Ein weiteres Mal beugte sie sich zu ihm herab und küsste ihn sacht, achtete dabei auf die Empfindungen, die er spürte.
„Jivvin …“, seufzte er kaum hörbar. Harla lächelte. Oh ja, sie war die Schwächste von allen Göttern, doch sie war eine Nachfahrin von Muria, Göttin der Jagd, des Mutes, der Wölfe – und der Feindschaft sowie der List; und von Balur, Gott des Handels, der Lüge, der Marder, des Chaos’ und des Verrats. Ihr war gelungen, woran die Alten fünf Jahrtausende lang gescheitert waren: Sie war in Charurs Reich zurückgekehrt.
Das Schicksal wird nicht nur von den Großen gelenkt!
Außer Am’chur war es den Göttern nicht erlaubt, Drachengestalt anzunehmen, wenn sie auf Aru wandeln wollten. Ein jeder hatte ein Geschöpf wählen müssen, passend zu dem Machtaspekt, den Kalesh ihm zugestanden hatte. Alle verachteten sie Harla dafür, dass sie sich einen menschlichen Körper erwählt hatte und die Sterblichen mit Fürsorge und Mitgefühl bedachte. Nun seht, welch mächtige
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