Die Memoiren des Barry Lyndon - aus dem Königreich Irland, samt einem Bericht über seine ungewöhnlichen Abenteuer, Unglücksfälle, Leiden im Dienste Seiner Majestät des Königs von Preußen, seine Besuche an vielen europäischen Höfen, seine Heirat und ...
dass Barry für sich allein das Positive und das Negative vertreten muss. In der
Ambivalenz der Figur spürt man Thackerays vernichtenden Humor, der aber nie – sonst wäre es kein Humor – direkte Empörung oder moralische Verwerfung durchscheinen lässt. Er demaskiert seinen Helden, ohne zu moralisieren. Die Parteilosigkeit des Autors, der sich scheinbar der Perspektive seines Helden unterwirft, wirkt nicht abschwächend, sondern als Steigerung. Denn niemand bleibt von diesem Humor verschont, nicht die Generäle noch die Soldaten, nicht die Herrschaften noch die Domestiken, nicht der Adel noch die unteren Stände, auch wenn die sozial Privilegierten ihn tödlicher zu spüren bekommen. «Die Großen und Reichen heißt man mit einem Lächeln auf der prächtigen Treppe der Welt willkommen», erklärt Barry, als er wieder einmal eine schlimme Intrige anspinnt, «die Armen wiewohl Aufstrebenden müssen an der Mauer emporklettern oder, pardi , durch eines der Abflussrohre des Hauses kriechen, die nach oben führen, ganz gleich wie eng und übelriechend sie sein mögen.»
Solche Sätze mochten in Thackerays Zeit befremden, aber das liegt daran, dass sie für unsere Gegenwart geschrieben scheinen. Je weiter wir uns historisch von Barry Lyndon entfernen, desto mehr wird er ein Mensch unserer Zeit, der
die Dinge betrachtet, wie sie sind, ohne Illusionen, ohne moralische Ideale, nüchtern, entschlossen, mit dem Willen zu überleben, durchzukommen, wenn möglich bequem. Solche Illusionslosigkeit ist nicht zu verwechseln mit Gefühllosigkeit. Ein Brief seiner Mutter rührt Barry zu Tränen, auch wenn er ihr Geld, das sie sich vom Munde abgespart hat, gleich wieder verjubelt (wie es überhaupt die Mutter ist, die ihm seine zwanghafte narzisstische Selbstliebe eingepflanzt hat); ihm klopft das Herz, wenn er nach langer Abwesenheit in seine irische Heimat zurückkehrt, die Stätten seiner Kindheit sieht und Erinnerungen ihn bestürmen; vollends der Tod seines kleinen, neunjährigen Sohnes Bryan ist gerade durch die Knappheit, mit der er geschildert wird, zutiefst ergreifend: «Viele, viele Männer habe ich sterben sehen, und immer ist da ein Ausdruck um die Augen, der keinen Irrtum zulässt. Es gab einmal einen kleinen Tambourjungen, den ich sehr mochte; er wurde bei Kunersdorf im Angesicht meiner Kompanie niedergestreckt, und als ich zu ihm lief, um ihm etwas zu trinken zu geben, hat er genauso dreingeblickt wie nun mein lieber Bryan – dieser schreckliche Ausdruck der Augen lässt keinen Irrtum zu.» An diesem Barry
Lyndon muss man Anteil nehmen, und man spürt in der Schilderung auch die Anteilnahme des Autors. Im 17. Kapitel unterbricht Thackeray einmal die Bekenntnisse seines Helden, um völlig unerwartet zu einer kommentierenden Fußnote anzusetzen: «Mr Barry Lyndon ist», heißt es da, «kein Held gewöhnlichen Zuschnitts; aber der Leser möge sich umschauen und sich fragen: Haben denn im Leben nicht ebenso viele Schurken Erfolg wie ehrbare Männer? Mehr Narren als Männer mit Talent? Und ist es nicht billig, dass die Lebensläufe dieser Klasse von einem, der das Wesen des Menschen untersucht, ebenso beschrieben werden wie die Taten dieser Märchenprinzen, dieser vollkommen unmöglichen Helden, die unsere Autoren so gern dar stellen?» Das ist nicht nur eine Kritik an der romantisch idealistischen Literatur, die in Thackerays Zeit en vogue war, sondern eine Rechtfertigung seines Helden. Als Romanfigur ist er nicht nur reizvoller als die blassen Märchenprinzen anderer Bücher, die Prinzen «Prettymen» , wie sie ironisch genannt werden, er besitzt auch mehr Wirklichkeit und Leben, dadurch ist er eine wahre Figur. Diese Eigenschaft war es wahrscheinlich, die Stanley Kubrick als so anziehend empfand, dass er Thackerays Roman als Vorlage
für seinen einzigen Historienfilm nahm und in einem Interview über den Helden sagte: «Barry ist naiv und ungebildet. Er ist besessen von brennendem Ehrgeiz, er will Reichtum und soziales Ansehen, aber er hat Charme und Mut; es ist unmöglich, ihn trotz seiner Eitelkeit, seiner Gefühllosigkeit und seiner Schwächen nicht zu mögen. Er ist eine sehr wirklichkeitsgetreue Figur, die weder ein traditioneller Held noch ein traditioneller Bösewicht ist.»
Thackerays Ruhm beruhte lange auf den Büchern, in denen er scharf umrissene, kühl realistische, satirisch zugespitzte Porträts der englischen Gesellschaft seiner Zeit entwarf, voran Jahrmarkt der Eitelkeit , für viele
Weitere Kostenlose Bücher