Die Moralisten
ich. »Was kann man damit öffnen?«
Er lachte. »Er soll die Welt der Möglichkeiten öffnen. Aber das tut er nicht. Manchmal denke ich, es ist ein Schwindel.« Er sah, daß ich ihn nicht verstand. »Man bekommt ihn auf der Universität. Es ist ein ziemlich snobistischer Club, in den man nur aufgenommen wird, wenn man den höchsten Anforderungen entspricht.«
»Haben Sie die Universität besucht?«
Er nickte.
Ich gab ihm die Uhr mit der Kette zurück und dachte an Marty und Jerry, die ihr Studium auch bald beendet haben mußten.
»Ich habe ein paar Freunde, die auch auf der Universität sind.«
»Wo?« fragte er interessiert.
Ich schnitt eine Grimasse. »Ich weiß es nicht«, bekannte ich. »Ich hab sie schon lange nicht mehr gesehen.«
»Woher wissen Sie denn, daß sie zur Universität gehen?«
»Ich kenne sie«, sagte ich.
»Merkwürdig, wie die Mensch den Kontakt miteinander verlieren«, meinte er nachdenklich.
Das schien das Eis zwischen uns zu brechen, und dann ging alles ganz einfach. Wir saßen und redeten über eine Stunde miteinander. Ich erzählte ihm von mir. Bisher hatte ich das noch mit niemandem getan. Aber er schien wirklich interessiert zu sein. Wir schieden als recht gute Freunde.
Der Winter 1932/33 war eine böse Zeit. Die Menschen waren arbeitslos und lebten von Unterstützung. Es wurde immer deutlicher, selbst für einen Menschen wie mich, der eine gewisse Sicherheit genoß, daß etwas getan werden mußte, um den Lebensunterhalt der Massen zu sichern. Jeden Tag schrien die Zeitungen: »Neue Krise.« Die Menschen hungerten, die Menschen froren. Zuschüsse für Veteranen. Arbeit für die Massen. Mach dir nichts vor, Nachbar, der »Wohlstand« wartet nicht hinter der nächsten Ecke.
Mich schien das nicht zu berühren. Ich war sicher. Ich hatte keinen Hunger. Ich fror nicht. Ich hatte Arbeit.
Wenn ich nach oben in den Klub ging, erschienen mir die Klagen der Leute dort niemals ganz wirklich. Die Reden, die ich hörte, schienen niemals irgendeinen Erfolg zu haben. Die Forderungen, die man stellte, fanden nie Gehör. Und allmählich verzweifelten die Menschen und gaben die Hoffnung auf, jemals wieder Arbeit zu bekommen. Das machte sich auf manche Weise bemerkbar. Männer, die gewissenhaft jeden Morgen losgingen, um sich Arbeit zu suchen, hörten damit auf und sagten sich: Was hat es schon für einen Zweck? Sie kamen mit den immer gleichen Redensarten: »Wissen Sie nicht, daß wir eine Flaute haben? Kamerad, hast du ein paar Cents übrig?«
Mehrere Läden in der Straße mußten schließen. Niemanden schien das zu berühren. Die Läden standen leer, und in den Fenstern hingen Riesenschilder: Zu vermieten. Die Parole hieß: billig verkaufen. »Herabgesetzte Preise«, »Halbe Preise«, »Ausverkauf brandbeschädigter Sachen«, »Jubiläumsverkauf«. Jeder Vorwand für einen Ausverkauf wurde benutzt. Aber es wurde nichts verkauft.
Die Menschen waren völlig verstört. Sie wußten nicht, wen
sie die Schuld in die Schuhe schieben sollten. Kleine Zettel erschienen in den Untergrundbahnen, an Schaufenstern, an Türen: »Kauft amerikanische Waren.« Verschiedene Zeitungen setzten eine Kampagne in Gang, die über das ganze Land ging: »Bringt den Wohlstand wieder durch den Kauf amerikanischer Waren.« Am Columbus Circle hielten Leute Reden gegen die Regierung, gegen den Präsidenten, gegen die Juden, Neger, Katholiken, gegen alles. Wütend schlugen sie nach allen Seiten aus. Sie griffen Gewerkschaften, Streiks, Streikbrecher, Nichtgewerkschaftler, Arbeitgeber, jüdische Arbeitgeber, jüdische Bankiers an. Ohne Sinn und Verstand wetterten sie gegen die ganze Menschheit.
Kauft nicht bei Juden. Kauft amerikanische Waren. Die Leute gingen durch die Straßen und hörten von Negertumulten in Harlem - von Krawallen um Lebensmittel im Verbrecherviertel. Die Gemüter erhitzten sich. Die versteckte Grausamkeit der Menschen wurde wachgerüttelt. Die ganze üble Brühe wurde umgerührt, wie von einer Meisterhand, die alle paar Minuten innehielt, um neue Gewürze hinzuzufügen: Haß, Mißtrauen, Verleumdung, Anspielung.
Weist den Nigger auf seinen Platz. Weiße brauchen Arbeit. Soll ein Nigger eure Schwester vergewaltigen?
Seht euch um. Wem gehören alle Geschäfte? Den Juden. Wem gehören die Banken? Den Juden. Wer hat die besten Posten? Die Juden. Was sind die meisten Ärzte und Rechtsanwälte? Juden. Wer sind die Kommunisten? Die Juden. Wer sind die Streikenden? Die Juden. Gehört dieses Land uns oder
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